„Charlie Hebdo“-Attentat Filmer bedauert Aufnahme von Polizistenmord

Von seinem Fenster aus filmte Jordi Mir die „Charlie Hebdo“-Attentäter, stellt das Video ins Internet – und ist geschockt, als seine Aufnahmen von der Ermordung eines Polizisten kurz darauf auf allen Sendern laufen.

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Das sind die Aufnahmen, die Jordi Mir aus seinem Fenster machte. Während Mir die Kamera laufen lässt, hört er einen der Schwarzgekleideten schreien: „Du willst uns töten?“ Quelle: Reuters

Paris Als die ersten Schüsse fallen, glaubt Jordi Mir an einen Banküberfall. Er stürzt zum Fenster, sieht zwei schwarz gekleidete Männer mit Gewehren über die ansonsten ruhige Straße vor seinem Fenster in Paris auf einen am Boden liegenden Polizisten zulaufen. Mir hält sie für die Mitglieder einer Spezialeinheit, die einem verletzten Kollegen helfen wollen und schaltet die Kamera ein.

Die Szene kennen inzwischen Millionen. Ungezählte Male ist sie über die Bildschirme der Fernsehstationen geflimmert. Sie ist zu einem Symbol der Brutalität des Mordanschlags auf die Satirezeitung „Carlie Hebdo“ am Mittwoch vergangener Woche geworden.

Während Mir die Kamera laufen lässt, hört er einen der Schwarzgekleideten schreien: „Du willst uns töten?“ Der Mann am Boden ist der 42-jährige Ahmed Merabet. Er hebt die Hand und sagt: „Nein, es ist okay, Chef.“ Doch der schießt ihn in den Kopf.

Mir begreift, dass er da keine Polizisten gefilmt hat, sondern Terroristen. Er lädt das Video auf seinen Computer und einen Datenträger, den er Ermittlern in die Hand drückt. Und dann lädt Mir das 42 Sekunden lange Video ungeschnitten auf seine Facebook-Seite. Warum, weiß er bis heute nicht. „Ich war völlig durchgedreht“, sagt der schlanke Mann Anfang 50 der Nachrichtenagentur AP. „Ich musste mit jemandem reden. Ich war allein in meiner Wohnung.“

Auf Facebook hat er 2500 Freunde. In zehn Jahren hat er sich angewöhnt, dort alles zu teilen, was er gesehen hat. „Ich mache ein Foto - eine Katze - und stelle es auf Facebook. Es war der selbe, dumme Reflex“, sagt Mir. Es dauert nicht lange, bis er das begreift. Keine Viertelstunde später löscht er das Video - doch es ist zu spät.

Seine Freunde haben das Video geteilt, einer stellt es auf die Videoplattform Youtube. Als Mir den Fernseher anstellt, läuft sein Filmchen auf allen Kanälen. Er und die gesamte Welt sehen immer wieder wie die Terroristen Chérif und Said Kouachi den verletzten Polizisten töten. Viele Sender geben sich nicht die Mühe, den Sterbenden unkenntlich zu machen oder wie AP die Szene herauszuschneiden.


Für die Familie des Opfers wird das Fernsehen zur Qual

Mir hat nicht damit gerechnet, dass sein Film weltweit und so oft gezeigt werden könnte. Eine Welle der Abscheu tost durch die Medien. Hartgesottene britische Boulevardblätter nennen die Aufnahmen schockierend und widerlich. Die französische Zeitung „Le Figaro“ stellt das Video unter der Bildunterschrift „Krieg“ im Internet auf ihre Titelseite. Die CNN-Reporterin Randi Kaye beschreibt es als „ein unvergessliches Bild, dass für immer mit dieser schrecklichen Attacke verbunden bleiben wird“.

Für die Familie des Mordopfers wird das Fernsehen zur Qual. Sie kann den Fernseher kaum einschalten, ohne den Tod des 42-Jährigen wieder und wieder vorgeführt zu bekommen. Sein Bruder Malek Merabet fragt Journalisten: „Wie können Sie es wagen, dieses Video zu übernehmen und zu senden? Ich hörte seine Stimme, ich erkannte ihn, ich sah wie er abgeschlachtet wurde. Und ich sehe jeden Tag wieder, wie er getötet wird.“

Mir sagt: „Für mich ist die Ermordung des Polizisten wie ein Kriegsfoto“. Er vergleicht das Video mit dem Bild des US-Reporters Robert Capa aus dem spanischen Bürgerkrieg, das einen Soldaten im Moment des Todes zeigt. Ein Beamter habe ihm gesagt, das Video habe dazu beigetragen, die Öffentlichkeit wachzurütteln.

Zumindest wird zahlreichen Fernsehzuschauern deutlich, dass die Angreifer nicht nur Journalisten niedergemetzelt haben, sondern auch Polizisten. Viele wandeln die Losung „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“) in „Je suis Ahmed“ ab. Während Mir mit der AP spricht, versammeln sich unter seinem Fenster immer wieder Menschen, an der Stelle, an der Ahmed Merabet starb. Sie legen Blumen nieder und denken an ihn.

Mir ist sein Handeln selbst ein Rätsel. „Es gibt keine Antwort“, sagt der Ingenieur. Es tue ihm sehr leid für Marabets Familie. Er habe alle Angebote abgelehnt, das Video zu verkaufen und zu Geld zu machen. Die Medien sollten wenigstens das Gesicht des Mordopfers unkenntlich machen, bevor sie das Video erneut zeigen. Wenn er alles noch einmal tun könnte, würde er seinen Film nicht ins Internet stellen. „Auf Facebook gibt es keine Vertraulichkeit“, sagt Mir. „Das wird mir eine Lehre sein.“

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