„Um den Konsum zu erhöhen, brauchen die Menschen ein besseres Sicherheitsnetz“, sagt Edward Tse von der Unternehmensberatung Booz & Company. „Viele Chinesen fühlen sich unsicher, weil sie keine Rentenversicherung haben und die Krankenversicherung nur kleine Fälle abdeckt.“ Außerdem legen sie Geld für ihre Kinder zurück. Ganz besonders gilt das für Menschen wie Liu, die aufgrund ihrer Geburt in einer ländlichen Gegend kein Anrecht auf Sozialleistungen haben.
Schuld daran ist ein veraltetes Meldesystem aus den Gründungszeiten der Volksrepublik. Seit 1958 teilt es die Bürger in Stadt-oder Landbewohner ein. Der qua Geburt erlangte Status prägt das ganze Leben. Wer in der Stadt gemeldet ist, ein Stadt-Hukou besitzt, hat Anrecht auf Sozialleistungen und kann seine Kinder auf eine staatliche Schule in der Stadt bringen. Wer ein Land-Hukou hat, genießt alle diese Rechte nicht – egal, wie lange er in einer Stadt wohnt. Sein Schicksal ist an die heimische Scholle gebunden. Dort, so die ursprüngliche Idee, ist sein Platz, um die Städter zu ernähren.
Vom Land in die Stadt
„Das System war einmal sinnvoll“, sagt Tom Miller vom Analystenhaus Dragonomics in Peking. „Es verhinderte, dass sich in China wuchernde Slums wie in Afrika oder Indien bildeten.“ Heute aber führt das Meldesystem genau zu dem, wovor es einst schützen sollte: Seit der wirtschaftlichen Öffnung drängen immer mehr Chinesen in die Städte, um in den Fabriken und Baustellen der boomenden Städte zu arbeiten. Dort verdienen sie zwar wenig, aber immer noch mehr als zu Hause auf dem Land.
Chinas Regierung will die Urbanisierung, bis 2030 soll eine Milliarde Chinesen in Städten leben. Stolz vermeldete Peking 2011, dass erstmals in der Geschichte Chinas mehr als 50 Prozent der Einwohner in Städten lebten. Doch nur 35 Prozent von ihnen gelten offiziell als Stadtbewohner. Laut Miller sind in Peking nur 14 Millionen von 20 Millionen Einwohnern auch Stadtbürger.
Bauern in einer Metropole
Miller ist Autor des Buches „China’s Urban Billion“. Darin zeichnet er ein düsteres Bild der Zukunft, sollte das Hukou-System nicht reformiert werden: neue Slums mit Millionen von Bürgern zweiter Klasse, die Arbeiten verrichten, die sonst niemand tun will. „Befreit man diese Leute nicht aus ihrer Armut, bleibt die Konsumquote gering“, warnt Miller. „Und immer mehr Leute vom Land werden frustriert sein – was zu politischer Instabilität führen kann.“
Der Ort, an dem Liu lebt, ist ein Dorf mitten in der Stadt. 20 Minuten sind es mit dem Auto von Shanghais Innenstadt an die Stelle, an der sich die Schnellstraße S 20 und ein Kanal kreuzen, in dem graubraunes Wasser eher steht als fließt. Weiter entfernt ragen acht Hochhäuser in den Himmel. Die Siedlung ist mit einer Mauer von der Schnellstraße getrennt. An den Wänden der Häuser hängen Würste zum Trocknen, räudige Hunde streunen herum. Es ist kein Slum, wie man ihn aus afrikanischen Ländern kennt. Chinas Arme wohnen nicht in Wellblechhütten. Sie leben wie arme Bauern mitten in einer Metropole.