China/Russland Russland zwischen Ost und West

Chinas Verhältnis zu den USA ist angespannt wie selten zuvor. Die neue Supermacht sucht nach neuen Verbündeten und zieht am Rockzipfel Russlands. Doch Moskau bereitet derzeit eine neue Charmeoffensive gegenüber dem Westen vor - und laviert weiter zwischen Fernost und West.

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Reger Austausch

Weit weg von Peking und ganz weit weg von Moskau lässt sich die Partnerschaft zwischen den Nachbarn gut besichtigen. In der nordchinesischen Handelsstadt Heihe zum Beispiel, die der Grenzfluss Amur von der ostsibirischen Industriestadt Blagoweschtschensk trennt. Am frühen Morgen ist Swetlana Krischajewa auf der russischen Seite aufgebrochen, steht jetzt am Passkontrollhäuschen und blickt durch ihre übergroße Sonnenbrille von Dolce & Gabana zurück auf die Schlote der schrottreifen russischen Stahlwerke. Die 32-jährige Sekretärin will heute in Heihe einkaufen: Lidschatten, Mascara, Lippenstift, eine Daunendecke und reichlich Lebensmittel. Vor ein paar Monaten hat sie sich in China die Lippen aufspritzen und die Nase richten lassen. „In China ist alles viel billiger als bei uns“, weiß sie.

Grenzgänger wie Swetlana haben Heihe in den vergangenen Jahren einen Boom beschert. Aus dem verschlafenen Nest ist eine Großstadt mit Luxuswohnungen, guten Hotels und Einkaufszentren geworden. Russische Kleinhändler transportieren Fernsehapparate, Handys, DVD-Geräte, Autos, selbst Bagger und Planierraupen über den Fluss – um die spottbilligen Importe im eigenen Land mit Riesengewinn zu verkaufen.

Den USA Paroli bieten

Der Handel mit oft gefälschten chinesischen Billigwaren ist den russischen Politikern eigentlich ein Dorn im Auge. Doch für den darbenden Fernen Osten Russlands mit den Großstädten Wladiwostok, Chabarowsk und Blagoweschtschensk ist der China-Handel lebensnotwendig. Die Fabriken der Region sind seit dem Kollaps der Sowjetunion nie wettbewerbsfähig geworden: Die Produktionsanlagen sind veraltet, die Produkte qualitativ schlecht und trotzdem auch nach chinesischen Maßstäben viel zu teuer. Darum geht der Handel über den Amur nur in Richtung Russland.

„Für viele Menschen hier ist der China-Handel die einzige Chance, einigermaßen zu Wohlstand zu kommen“, sagt der Ökonom Michail Terskij von der Universität Wladiwostok. Dass in Moskau manch einer den Ausverkauf des russischen Fernen Ostens an China fürchtet, kann er nicht verstehen. Wenn Russland die Region nicht entwickle, werde das eben China übernehmen.

Und so bahnt sich zwischen dem hohen Norden Chinas und dem Südosten Sibiriens eine Allianz an, von der Moskauer Politiker spätestens seit dem Ende der Sowjetzeit träumen. Die Vorzeichen haben sich gewandelt, und trotzdem haben die Eliten beider Länder noch den denkwürdigen Trinkspruch im Kopf, mit dem in den Neunzigerjahren Russlands Präsident Boris Jelzin bei einem Staatsbesuch in Peking die Gastgeber beehrte: „Wenn Russen und Chinesen ein Bündnis schließen, können die USA als Weltmacht einpacken.“

Mit allen Mitteln umgarnt China heute den Nachbarn im Norden. Wirtschaftlich geht es der kommenden Weltmacht um die Rohstoffreserven der Russen. Weltpolitisch will China im Bündnis mit Russland den USA Paroli bieten.

Für die Chinesen aber läuft es derzeit in Moskau gut. Besonders Vize-Regierungschef Igor Setschin, der führende Hardliner und Staatskapitalist, treibt die russisch-chinesische Allianz voran. Als sein Regierungschef Wladimir Putin im vorigen Oktober in Peking weilte, ließ er Verträge im Wert von 5,5 Milliarden Dollar unterschreiben. Russland stockt die Gaslieferungen ins Reich der Mitte auf, der staatliche Ölkonzern Rosneft baut mit Chinas National Petroleum eine Raffinerie, und chinesische Fonds finanzieren bedenkenlos jene Projekte, die westlichen Hedgefonds zu heiß sind. Erst kürzlich stieg der Technologiefonds Tencent mit 300 Millionen Dollar beim Moskauer Investor Digital Sky Technologies (DST) ein, der seit Monaten Anteile am amerikanischen Startup Facebook erwirbt.

Der ChinRegierungschefs Wen Quelle: dpa

Die Russen sind hin- und hergerissen zwischen Ost und West: Einerseits kurbelt das Putin-Setschin-Lager die Geschäfte mit China an, andererseits forciert Präsident Dmitri Medwedew bessere Beziehungen zum Westen. Derzeit lässt der Präsident eine neue außenpolitische Doktrin ausarbeiten. Er will die Partnerschaft mit Europa und den USA – und China einen Korb geben. Diese Woche soll die große russische Charmeoffensive Richtung Westen beim EU-Russland-Gipfel in Rostow am Don starten.

Die Russen stehen wie so oft in ihrer Geschichte vor der Identitätsfrage: Wollen sie Teil des Westens sein oder lieber an der Seite Chinas Weltpolitik betreiben? Kann ihr Land erfolgreich, zwischen den Stühlen sitzend, lavieren? Bislang tut sich Moskau mit beiden Möglichkeiten schwer: Die Europäer kritisieren Russlands Demokratiedefizite, Investoren halten sich zurück, die viel beschworene Modernisierungspartnerschaft mit der EU ist viel heiße Luft. Indes steigt das Milliardenreich China schleichend zu Russlands wichtigstem Handelspartner auf, ist aber wegen seines Selbstbewusstseins und seiner schieren Größe dem Kreml nicht geheuer.

Gemeinschaftsunternehmen geplant

Für China ist es einfacher: Bis 2020 will das Land mindestens zwölf Milliarden Dollar in Russland investieren. Peking plant viele Gemeinschaftsunternehmen, will russisches Öl verarbeiten und schielt auf russische Gasvorkommen, die bislang für europäische Kunden reserviert waren. Und der Warenaustausch wächst nach dem Einbruch im Krisenjahr 2009 schon wieder gigantisch: „Der Handel wächst in normalen Jahren um mehr als ein Drittel. Und das ist erst der Anfang“, sagt Sergej Sanakojew vom Russisch-Chinesischen Wirtschaftsverband in Moskau. Die Volksrepublik könnte bald Deutschland als wichtigsten Handelspartner Russlands überholen.

Am Grenzfluss Amur sind die privaten und kleingewerblichen Profiteure des Booms zu finden, etwas weiter südlich in China die Großen des Russland-Geschäfts. Sun Weijie residiert in einem schlichten Büro in der Altstadt von Harbin. Die Provinzhauptstadt des chinesischen Nordostens ist architektonisch von ihrer russischen Vergangenheit geprägt, Suns Büro nur einen Steinwurf von der orthodoxen Kirche entfernt. „Wir profitieren von der Annäherung zwischen China und Russland“, sagt der Unternehmer, dessen Handelshaus Busse, Lastwagen, Werkzeug- und Baumaschinen nach Russland verkauft. Für dieses Jahr erwartet er einen Umsatz von fast 30 Millionen Dollar, dreimal so viel wie vor fünf Jahren. Russische Kunden stehen geradezu Schlange für seine Busse. Sie sind 60 Prozent billiger als die der westeuropäischen Konkurrenz und qualitativ besser als russische Modelle.

China liefert inzwischen alles, was Russland nicht hat. Das ist viel, denn außer Rohstoffen und Waffen haben russische Unternehmen auch ihren Landsleuten wenig anzubieten. „Die Russen haben ihre Wirtschaft nie richtig entwickelt“, sagt Ji Zhiye, Experte für chinesisch-russische Beziehungen am China Institute of Contemporary International Relations (CICIR) in Peking. Neben Bussen, Autos und Maschinen werden vor allem chinesische Fernseher, DVD-Spiele, Handys, Kameras, Spielzeug, Textilien, Schuhe und Kosmetika nach Russland exportiert.

Die Chinesen verkaufen nicht nur, sie investieren auch. Der chinesische Autohersteller Chery will in Kaliningrad eine Fabrik bauen. In Sankt Petersburg zieht der Immobilienriese Jinmao aus Shanghai Apartment- und Bürokomplexe hoch. Netzausrüster Huawei aus Shenzhen beliefert fast alle russischen Telekomanbieter und leistet sich in Russland ein Entwicklungszentrum.

Eine Öl-Raffinerie. Quelle: REUTERS

„Wir ergänzen uns prima“, sagt der Unternehmer Sun. China liefere die Waren, Russland versorge den boomenden Nachbarn mit Rohstoffen. Neben Holz, Metallschrott und Waffen bezieht China natürlich Öl und Gas bei seinem Nachbarn – der mit Abstand größte Posten in der Importbilanz. Der Energiebedarf der chinesischen Industrie steigt rasant. Und Russlands klamme Öl- und Gaskonzerne wollen das Netz ihrer Abnehmer verbreitern und verstärkt nach Ostasien liefern, seit die Nachfrage in Europa zurückgeht.

Eine erste Ölpipeline aus Russland in die chinesische Erdölstadt Daqing geht wahrscheinlich Anfang 2011 in Betrieb. Bei Putins Pekingbesuch im vorigen Herbst unterschrieben die beiden Länder ein Rahmenabkommen über den Bau einer Gaspipeline, die maßgeblich von Chinesen finanziert werden soll. Wenn sich die Handelspartner über den Preis geeinigt haben, könnte China in Zukunft die westsibirischen Gasfelder anzapfen. „Es ist absolut realistisch, dass Europa und China in einigen Jahren um russisches Gas konkurrieren“, warnt Andrej Jakowlew von der Higher School of Economics in Moskau. Gazprom will jedenfalls 2020 ein Fünftel seines Gases nach China liefern.

Russland packen

Längst haben die Chinesen also einen Fuß in der Tür nach Russland, ohne dass es die Europäer bemerkt haben. Beim Gipfel in Rostow am Don reden Europäer und Russen jetzt über Visafreiheit, wie sie China den Russen längst gewährt. Daneben geht es um Investitionen, bei denen sich besonders die Deutschen derzeit zurückhalten. Es geht um Energielieferungen, die sich China in aller Stille sichert. Kaum ein Beobachter rechnet damit, dass bei diesem Gipfel mehr als eine Absichtserklärung herauskommt.

Nur ein pensionierter Außenseiter der europäischen Politik mahnte neulich, die EU müsse Russland packen und an sich binden, ehe die neue Weltmacht China eine Ehe mit dem Rohstoffriesen eingeht. Es war Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der im heruntergekommenen Saal einer Moskauer Universität die Assoziierung Russlands mit der EU vorschlug.

Mit solchen Vorträgen stockt Schröder seine Kanzlerrente und die Bezüge als Verwaltungsratschef des russisch-europäischen Pipelineprojekts in der Ostsee auf. Schon darum nimmt ihn in Westeuropa kaum einer noch ernst. Doch diesmal liegt Schröder gar nicht so falsch. Denn China erobert den russischen Markt schleichend. Im Kampf um Rohstoffe konkurriert der Westen mit Peking. Europäische Unternehmen sehen sich in Russland immer mehr dem Druck chinesischer Wettbewerber ausgesetzt, die zuweilen bessere Produkte sehr viel günstiger anbieten.

Dabei gibt es auch zwischen Moskau und Peking große Probleme. Die Russen ärgern sich, dass China sich Rohstoffvorkommen in Zentralasien unter den Nagel reißt. Seit Ende 2009 fließt Gas durch eine 7000 Kilometer lange Pipeline aus Turkmenistan nach China, fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hat Peking das Projekt in Windeseile umgesetzt. Weitere Pipelines sollen folgen, Lieferverträge werden verhandelt.

Auch im Grenzgebiet gibt es gelegentlich Ärger. Dem Unternehmer Sun aus Harbin drohten russische Behörden unlängst, den Import seiner Busse zu beschränken. Neuerdings verlangen die Russen von chinesischen Händlern Visa, immer häufiger kommt es zu Razzien auf den Märkten. Ein Groll sind den russischen Beamten auch die Hunderttausende Arbeiter aus China, die sich oft illegal als Tellerwäscher, Kellner, Verkäufer oder Landarbeiter verdingen.

Der Pekinger Russland-Experte Ji versucht die Irritationen herunterzuspielen. „Die politischen Führungen in Moskau und Peking sind sich einig, nur auf der Ebene dazwischen hakt es derzeit.“ Ein Chinese nahe der russischen Grenze wird deutlicher: „Aus dem Schüler ist ein Lehrer geworden, und das gefällt Moskau nicht.“ Die Chinesen als Lehrer Russlands? Eine solche Partnerschaft hatte der Präsident Jelzin weiland bei seinem Trinkspruch nicht im Sinn.

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