Daniel Barenboim "Es gibt nur eine humanistische Lösung"

Der Dirigent und Pianist über die gesellschaftliche Wirkung von Beethovens Musik, seinen Beitrag zur Friedenssuche im Nahen Osten und den Sinn von Subventionen im Kulturbetrieb.

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Der argentinische Dirigent Daniel Barenboim Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Barenboim, Ihr jüngstes Projekt heißt „Beethoven für Alle“. Mit der 9. Sinfonie wird vor allem der Begriff Freiheit verbunden. Können Sie beschreiben, wie Freiheit klingt?

Barenboim: Beethoven spricht ja über Freude, nicht über Freiheit! Leonard Bernstein hatte 1989 nach dem Fall der Mauer den Text geändert, und statt „Freude“ „Freiheit“ singen lassen. Für den Moment war das absolut richtig. Was passiert im letzten Satz der Neunten? „Und der Cherub steht vor Gott, steht vor Gott, steht vor Gott“, und dann sagt er „VOR GOOOTT.“ Dieses letzte „vor Gott“ ist eine Modulation. Warum erzähle ich das? Wenn es um so ein Gefühl geht, dann braucht man eine dramatische Geste. Das ist eine der erstaunlichsten Sachen, die Sie über die Neunte sagen können – es geht nicht nur um Moll und Dur und darum, dass das eine traurig und das andere fröhlich sei, sondern es geht um Modulation als dramatisches Mittel.

Zeichnet dieses Drama alle Sinfonien von Beethoven aus, die Sie gerade mit dem West-Eastern Divan Orchestra eingespielt haben?
Nein, das Erstaunliche ist für mich, dass Beethoven das Bedürfnis hatte, für jede seiner neun Symphonien eine neue musikalische Sprache zu finden. Wenn man nur die Fünfte kennt und hört danach die Sechste, die Pastorale, dann denkt man: Das ist ein ganz anderer Komponist!

War Beethoven ein politischer Komponist?
Er war im tiefsten Sinne des Wortes ein sehr politischer Mensch. Wir wissen nicht, was ein Mozart oder Schubert über den Menschen in der Gesellschaft zu sagen gehabt hätten - aber Beethovens Faszination für die französische Revolution war echt, sie hat ihn tief bewegt. Er war enttäuscht von Napoleon, der sich selbst krönte. Die Moral des Menschen hat ihn sehr beschäftigt. Ihn interessierte alles, was der Mensch tut, um sich zu vervollkommen, um Größe zu gewinnen.

Sie selbst sprechen von der universellen Wirkung seiner Musik. Gibt es also so etwas wie einen roten Faden, der seine Sinfonien verbindet?

Sie haben etwas sehr Direktes. Etwas, das Menschen aus allen Kulturen sofort verstehen. Das gilt im übrigen nicht nur für Beethoven, das gilt auch für Mozart und andere. Man kann so schwer über Musik sprechen. Instrumentale Musik kann sich nur über den Klang äußern. Das heißt: Wenn wir über Musik sprechen, dann sprechen wir über unsere Reaktion auf Klänge. Wir sagen, die Musik sei fröhlich, tragisch oder melancholisch. Beethoven hat das alles. Seine Musik ist episch, sinnlich, was immer sie wollen. Nur eines ist seine Musik nie: oberflächlich. Beethoven erträgt keine Koketterie.

Ist Beethovens Musik deshalb besonders geeignet für ein Projekt wie Ihre West-Eastern Divan Orchestra, das junge Menschen aus Palästina und Israel zusammenführt?

Als wir das erste Mal auftraten, haben wir die 7. Sinfonie gespielt. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich habe ad hoc entschieden. Ich habe geschaut, welche Instrumente besetzt waren. Wir hatten keine Posaunen, keine Tuben – also spielten wir Beethovens Siebte. Nicht weil sie heiter wäre oder weil Wagner sie als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet hat. Das spielte keine Rolle. Ich habe die Siebte einfach als ein wunderbares Stück ausgewählt. Sie dürfen nicht vergessen: Da saßen junge Menschen. Mehr als die Hälfte von ihnen hatte noch nie in einem Orchester gespielt. Und die kleinere Hälfte hatte noch nie ein Orchester live gehört in ihren Dörfern in Nordisrael oder Palästina.

Die Musik Beethovens eignet sich also auch gut zur Orchestererziehung?

Dazu muss ich ein wenig ausholen. Das Orchester war von Anfang an ein Bildungsprojekt, und ich hatte 2002 , als die andalusische Regierung uns eine Heimatspielstätte gegeben hat, das große Glück, langfristig planen zu können. Ich hatte auch Geld für Stipendien. Die jungen Menschen kamen im Juli und arbeiteten zwei Wochen zum Beispiel mit dem Solobratscher der Berliner Staatskapelle, dann kamen Proben der Instrumentengruppen und dann erst kam ich. Am Ende dieser Periode von sechs oder sieben Wochen erhielten besonders begabte Musiker Stipendien und die Möglichkeit, bei den Kollegen der Staatskapelle weiterzustudieren. Deshalb ist das Orchester so schnell gewachsen. Die Arbeit an den Beethoven-Sinfonien war der Kern dieser Entwicklung.

Und heute?

Im Sommer werden wir bei den Promenadenkonzerten in der Londoner Royal Albert Hall den gesamten Zyklus aufführen. Gemischt mit Stücken von Pierre Boulez.

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