Daniel Barenboim "Es gibt nur eine humanistische Lösung"

Seite 2/4

Musik als Medium der Versöhnung

Dirigent Daniel Barenboim in der La Scala Oper in Mailand Quelle: REUTERS

Eine steile Karriere für ein Jugendorchester.

Alle anderen herausragenden Projekte im Jugendbereich holen die besten Nachwuchsmusiker - für einige Wochen. Die Fluktuation ist vergleichsweise hoch. Wir hingegen werden gemeinsam erfahrener. Es gibt mehr musikalische Kontinuität. Ohne arrogant klingen zu wollen: Die Musiker haben diese Werke oft mit niemand anderem gespielt als mit mir. Da ergibt sich eine gewisse Selbstverständlichkeit, die ich nur mit wenigen Orchestern erreichen kann. Denn dort vergleichen die Musiker zwischen meinen Wünschen und ihren sonstigen Erfahrungen. Und gießen ein bisschen Wasser in den Wein.

Begreifen Sie das Divan Orchestra über seine musikalischen Ansprüche hinaus als ein didaktisches Friedensprojekt?

Nein, nein. Wenn dieses Orchester auf die Bühne geht, dann ist der Effekt nur deshalb größer als mit anderen Orchestern, weil die Zuschauer es gewöhnt sind, Menschen, deren Gesichter unseren Musikern ähneln, dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig töten. Nun musizieren sie miteinander. Aber ich glaube, dass das in zwei Minuten vergessen ist. Außerdem repräsentiert keiner unserer Musiker sein Land, sondern jeder sich selbst als Individuum.

Die Musik als Medium der Versöhnung?

Musik sucht eine Einheit. Sie verbindet und führt Kontraste zusammen. Und das ist genau das, was in Israel und Palästina fehlt: Die Suche nach Zusammenhängen, die Suche nach einem gemeinsamen Weg. Zusammen kommen, zusammen leben.

Im Moment sieht es nicht nach einer harmonischen Lösung in der Region aus.
Barenboim: Es gibt keine militärische Lösung für den Konflikt. Denn er ist kein „normaler“ Konflikt, wie ihn die Geschichte schon tausendmal gesehen hat zwischen zwei Nationen, wie zum Beispiel zwischen Frankreich und Deutschland. Hier ist die Situation anders. Hier handelt es sich um einen Konflikt zwischen zwei Völkern, die zutiefst davon überzeugt sind, auf dem gleichen Stück Landleben zu dürfen. Wie wollen sie da einen Kompromiss finden? Hier kann es nur eine Lösung im Geist des Humanismus geben. Wir müssen lernen, entweder zusammen oder Seite an Seite zu leben. Aber keinesfalls Rücken an Rücken. Wir müssen der Realität ins Auge sehen: Wir sind gesegnet und verflucht miteinander auszukommen.

Haben Sie Hoffnung, dass es besser wird?

Vorerst keine.

Sie sagen das so nüchtern. Und dennoch lassen Sie nicht nach mit Ihrem Engagement?

Nein. Wir haben nur ein ganz winziges Alternativmodell. Ich kann die Welt nicht ändern. Ich kann nur meine kleine Welt, mich und die, die um mich sind, aufbauen. Wir zeigen, dass unsere Leute gelernt haben, die Erzählungen der anderen zu akzeptieren, ohne damit einverstanden zu sein - und dann dennoch zu kooperieren. Die Musiker sitzen am gleichen Pult und versuchen den gleichen Ton gleich laut, gleich lang zu spielen. Gleich, gleich, gleich. Dazu hat kein Israeli, kein Palästinenser die Möglichkeit – es sei denn, er ist Musiker. In diesem Fall sind Hoffnung oder Optimismus eine Art Selbstverteidigung.

Kommen wir noch schnell zu einem andern Thema: Vor einigen Wochen wurde mal wieder darüber geredet, dass die öffentlichen Ausgaben für Kulture zu hoch seien. Irritiert Sie eine solche Diskussion?

Wissen Sie, dass man sich im Land von Goethe, Schiller, Schubert, Bach, Kant, Schopenhauer – die Liste ist endlos – fragt, ob wir zu viel Kultur haben... Ich frage: Was sonst, wenn nicht Kultur? Die Existenz des Menschen hat damit zu tun, dass er genug Wasser und Brot hat, sicher, aber eben nicht nur. Überlegen Sie mal, was wäre, wenn man in der Schule Musik so intensiv unterrichten würde wie Deutsch, Mathematik oder Biologie. Dann säßen sicher viel mehr Menschen in unseren Opernhäusern. Dann würde man ganz anders über Subventionen reden.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%