WirtschaftsWoche: Die öffentliche Aufmerksamkeit für die so genannte Bevölkerungsexplosion war in den 70er und 80er Jahren deutlich größer als heute – obwohl auch Europa die Folgen in Form von Migration deutlicher erfährt als damals. Woran liegt es?
Reiner Klingholz: Seit dieser Zeit hat sich die Wachstumsrate der Menschheit halbiert, auch die Kinderzahlen je Frau sind im weltweiten Schnitt von etwa 5 auf 2,5 gesunken. Das hört sich nach Entwarnung an und ist ja auch die Folge einer positiven sozioökonomischen Entwicklung in den meisten Ländern der Welt. Dabei unterliegen wir aber einem simplen mathematischen Denkfehler: Das halbierte Wachstum findet heute auf Basis der doppelten Zahl an Menschen statt, weshalb pro Jahr fast genauso viele neue Erdenbürger hinzukommen wie vor 40, 50 Jahren. Die zusätzliche Herausforderung, diese Menschen zu versorgen, ist heute genauso hoch wie vor einem halben Jahrhundert. Das Besondere dabei ist, dass dieses Wachstum praktisch nur noch in den ärmsten Ländern stattfindet, welche die Versorgung der Menschen – mit Nahrung, Trinkwasser, Infrastrukturen, vor allem mit Jobs – schon heute nicht garantieren können.
Zur Person
Dr. Reiner Klingholz, 64, arbeitet seit 2003 als Direktor und seit 2009 zusätzlich als Vorstand des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Bis 1983 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Hamburg und promovierte über makromolekulare DNS-Strukturen im Fachbereich Chemie. Klingholz arbeitete als Wissenschaftsredakteur bei der ZEIT und GEO und veröffentlichte mehrere Bücher, darunter "Sklaven des Wachstums" zu den Problemen einer nachhaltigen Entwicklung (2014) und "Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit" (2016). Klingholz gewann verschiedene Journalistenpreise, darunter zwei Mal den Journalistenpreis Entwicklungspolitik des Bundespräsidenten. Von 2005 bis 2007 war Klingholz Mitglied der Enquete-Kommission Demografischer Wandel des Landes Niedersachsen. 2013 und 2015 war er Fellow am Stellenbosch Institute for Advanced Study (STIAS) in Südafrika.
Die Bevölkerungsprognosen für Afrika südlich der Sahara sind extrem. Könnte der Kontinent die 3,5 Milliarden Menschen, die manche Demografen bis 2100 vorhersagen, auch nur ansatzweise versorgen?
Die Urheber dieser Prognosen wissen vermutlich selbst, dass diese Unfug sind. Für ein Land wie Niger, am trockenen Südrand der Sahara gelegen, stünden demnach bis 2100 über 200 Millionen Einwohner in Aussicht, knapp zehnmal mehr als heute. Die gängige Wirtschaftsform dort ist aber die Subsistenz- und Nomadenwirtschaft, von der vielleicht zehn Millionen gut leben könnten. Sollte das Bevölkerungswachstum wie in diesen Prognosen angenommen, anhalten, müssen Abermillionen Niger verlassen oder sie gehen an fürchterlichen Katastrophen zugrunde. So schlimm muss es aber nicht kommen: Im besten Fall käme das Land auf den Pfad der Entwicklung, dann sinken die Kinderzahlen rasch und es kommt nie zu dem vorhergesagten Wachstum. 200 Millionen Menschen in Niger wird es also weder im schlechtesten noch im besten Fall geben.
Die Stärkung der Bildung im subsaharischen Afrika ist Ihrer Ansicht nach der Schlüssel, um die Bevölkerungszunahme aufzuhalten und ökonomische Entwicklung anzuregen. Auch wenn der Zusammenhang zwischen mehr Bildung und weniger Kindern offensichtlich unbestreitbar ist: Wäre es nicht effektiver, wenn Entwicklungshilfe direkt bei der Familienplanung ansetzte und alles daran setzte, die Geburtenzahlen schnell zu senken, so wie es China seit den 1970ern tut?
China hat sich mit seiner Bevölkerungspolitik in der Tat den Weg zur wirtschaftlichen Entwicklung eröffnet. Aber das ist nicht der einzige Weg. Thailand hat im Zeitverlauf praktisch den identischen Rückgang der Kinderzahlen erlebt wie China – komplett ohne Repressionen. Allein Bildung, Arbeitsplätze, mehr Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern haben diese Veränderung bewirkt. Erst wenn Menschen eine Perspektive haben, beginnen sie überhaupt ihr zu Leben planen. Erst dann denken sie auch an Familienplanung. Diese zu verordnen, bringt wenig – und wenn, dann muss man sie totalitär durchsetzen wie in China, was in Afrika schon deshalb nicht gelingen würde, weil wir es mit über 50 verschiedenen Staaten zu tun haben.