Der Fall Reza Zarrab Erdogans tickende Zeitbombe

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Angriff ist die beste Verteidigung


Erdogan behauptete, die Antikorruptionsoperationen seien „eine Verschwörung“ gegen die Regierung und „ein Umsturz der Justiz“, der von der Gülen-Bewegung inszeniert worden sei. Die Bewegung des islamischen Predigers, der seit 1999 im Exil in den USA lebt, wird inzwischen für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich gemacht. Im Laufe des folgenden Jahres wurden als Auftakt für die Säuberungen, die seit dem Putschversuch in der Türkei stattgefunden haben, bereits 40.000 Polizisten und 4000 Richter und Staatsanwälte entweder versetzt oder abgesetzt.

Der Schwerpunkt der Untersuchungen galt Reza Zarrab, der unter der Mitwirkung von Regierungsministern und -beamten und gegen die US-Sanktionsrichtlinien Gold in den Iran exportiert haben soll. Nach seiner Freilassung soll er sich gerühmt haben, 200 Tonnen Gold exportiert zu haben und mit den mehr als 11 Milliarden US-Dollar, 15 Prozent des Leistungsbilanzdefizits der Türkei geschlossen zu haben.

Zarrab blieb auf freiem Fuß – bis März 2016. Der Familienvater war mit Frau und Tochter auf dem Weg ins Disneyland im US-Bundesstaat Florida, als er bei der Einreise verhaftet wurde. Warum Zarrab trotz der gegen ihn bekannten Vorwürfe in die USA einreiste, ist unklar. In einer Anklage, die der damals bekannte und gefürchtete US-Staatsanwalt Preet Bharara unterzeichnet hatte, wurde Zarrab und zwei Mitverschwörer des Verstoßes gegen US-amerikanische und internationale Sanktionen sowie Bankbetrug und Geldwäsche bezichtigt. Höchststrafe: 75 Jahre Gefängnis. Noch gefährlicher aber ist, was Zarrab im Fall eines Prozesses aussagen könnte. Die ersten Anhörungen sollen in diesem Monat beginnen. Für Erdogan und seine AKP ist der Mann eine tickende Zeitbombe.

Bis heute hält die türkische Führung an ihrer Sicht fest, nach der sie sich an Sanktionen, die die USA festgelegt haben, nicht beteiligen muss. Die Angelegenheit ist pikant: Auch deutsche Unternehmen sind bereits Opfer der amerikanischen Iran-Politik geworden. Vor zwei Jahren zahlte die Deutsche Bank insgesamt 258 Millionen Dollar. Es ging um Transaktionen für Kunden aus Syrien und Iran, gegen die Amerika Sanktionen verhängt hatte. Die US-Finanzaufsicht hatte sonst gedroht, der Bank die Lizenz auf dem lukrativen amerikanischen Markt zu entziehen. Die Commerzbank musste in einem ähnlichen Fall 1,45 Milliarden Dollar bezahlen, die französische Großbank BNP Paribas sogar neun Milliarden.

Der Fall Zarrab gestaltet sich ähnlich – bloß, dass er bis in die türkische Regierung hineinreichen könnte. Im November vergangenen Jahres wurde Zarrabs Bruder Mohammad ebenfalls angeklagt, und im März dieses Jahres wurde der stellvertretende Leiter der Halkbank am Flughafen in New York verhaftet. Der türkische Justizminister Bekir Bozdag traf sich im vergangenen Oktober mit seiner amerikanischen Amtskollegin Loretta Lynch, um sie dazu zu bringen, den Fall zu Fall zu bringen, und Erdogan hob im Mai mit Präsident Trump die Angelegenheit auf.

Im März wurde der leitende Staatsanwaltschaft Preet Bharara überraschend von Präsident Trump entlassen, nachdem er sich geweigert hatte, seinen Posten von sich aus niederzulegen. Ein US-Richter äußerte damals Bedenken wegen politischer Einmischung. Bozdag, inzwischen stellvertretender Premierminister, beschuldigt nun die US-Justiz, ein Werkzeug der Gülen-Bewegung zu sein; eine Behauptung, die die Sprecherin des Außenministeriums Heather Nauert als „absurd“ abgetan hat.

Sollte Zarrab gegen Erdogan aussagen, müsste der türkische Staatschef sich im eigenen Land erneut rechtfertigen. Das könnte ihn und seiner AKP bei den wichtigen Kommunal- und Präsidentschaftswahlen in anderthalb Jahren Stimmen kosten. Erdogan scheint daher die Strategie „Angriff ist die beste Verteidigung“ zu bevorzugen: Er erhöht seinerseits die diplomatischen Spannungen mit Washington. Die Festnahmen US-amerikanischer Konsulatsmitarbeiter in Istanbul, die in der Schwebe liegende Auslieferung Gülens und die Unterstützung der PKK-Schwestergruppen in Syrien kommen dem türkischen Staatschef dabei ungemein gelegen.

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