Die 200-Euro-Generation Griechen in der lebenslangen Armutsfalle

Die Krise in Griechenland macht kaum noch Schlagzeilen – für die meisten Griechen ist sie jedoch bittere Realität. Jeder Dritte ist akut von Armut bedroht. Die Notlage wird viele Menschen bis zu ihrem Tod begleiten.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Geringe Löhne, kaum Altersvorsorge, viel Armut: Die Krise in Griechenland ist längst nicht vorüber. Quelle: dpa

Athen Vor fünf Jahren hat Petros Kritikos sein Studium abgeschlossen – Mathematik, seine große Leidenschaft. Das Diplom hängt gerahmt im Wohnzimmer seiner Eltern. „Viel wert ist es nicht“, sagt Petros traurig. Bis heute hat er keine Arbeit in seinem Beruf gefunden. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch.

Seit vier Monaten jobbt er als Kellner in einem Café, sechs Stunden pro Tag an vier Tagen in der Woche. 295 Euro hat ihm der Wirt für den Teilzeitjob angeboten. „Entscheide Dich schnell, es gibt viele Interessenten“, sagte der Cafébesitzer. Petros nahm den Job. Der 30-Jährige lebt bei seiner Mutter. Deren Witwenrente und Petros‘ Verdienst reichen für die beiden gerade mal zum Leben. Ob er selbst einmal eine Altersversorgung aufbauen kann? Petros zuckt mit den Schultern.

20 Monate nach dem Amtsantritt des Premierministers Alexis Tsipras geht es den meisten Griechen schlechter denn je. Von den bisher ausgezahlten Hilfskrediten, immerhin 246 Milliarden Euro, kam bei den Menschen fast nichts an. Das Geld diente überwiegend dazu, Altschulden zu refinanzieren.

Nach einer kurzen Erholung 2014 rutschte Griechenland nach dem Wahlsieg des Linkspopulisten Tsipras wieder in die Rezession zurück. Im ersten Halbjahr 2016 schrumpfte die Wirtschaft um 0,75 Prozent. Die Firmen-Insolvenzen erreichten ein neues Dreijahreshoch. Bei der internationalen Wettbewerbsfähigkeit fiel Griechenland in der jüngsten Rangliste des World Economic Forum um fünf Plätze auf Rang 86 unter 138 Ländern zurück, noch hinter die Ukraine, Albanien und den Iran. Der Internationale Währungsfonds (IWF) konstatiert ein schleichendes Reformtempo, Investitionshürden, Wachstumshindernisse und hohe politische Risiken.

Für 2017 erwartet die Regierung ein Wachstum von 2,7 Prozent, aber viele unabhängige Experten bleiben skeptisch. Deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten für Griechenland im nächsten Jahr nur eine leichte Erholung von 0,7 Prozent, die Ratingagentur Fitch rechnet mit einem Wachstum von 1,8 Prozent.

Der Arbeitsmarkt wird von der Erholung zunächst kaum profitieren. Die Arbeitslosenquote in Griechenland lag im Juli bei 23,2 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei fast 48 Prozent – ein trauriger Rekord in Europa. Nur zwei von zehn Arbeitslosen in Griechenland bekommen Arbeitslosengeld, das maximal ein Jahr lang gezahlt wird. Eine Grundversorgung wie Hartz IV gibt es nicht. Die Aussichten sind düster. Sogar die notorisch optimistische Regierung rechnet für 2017 mit 22,4 Prozent Arbeitslosigkeit. In den nächsten drei Jahrzehnten werde die Quote im zweistelligen Bereich bleiben, so die Prognose des IWF.

Aber auch wer eine Arbeit hat, muss sich einschränken. Seit Beginn der Krise sind die Einkommen nach Berechnungen des IWF um durchschnittlich ein Drittel zurückgegangen. Sechs von zehn griechischen Arbeitnehmern verdienen inzwischen weniger als 1000 Euro brutto im Monat. Viele Arbeitgeber stellen nur noch Teilzeitkräfte ein, vor allem in der Gastronomie. So umgehen sie den Kündigungsschutz, sparen Lohn und Sozialversicherungsabgaben.

Von den 3,7 Millionen Erwerbstätigen sind nach Angaben der staatlichen Sozialversicherungskasse IKA 527 299 teilzeitbeschäftigt. Der Trend zur Teilzeit hat sich in diesem Jahr verstärkt. Die Arbeitgeber ersetzen immer mehr Vollzeitstellen durch Teilzeitjobs. So entfielen im April noch 44,7 Prozent der Neueinstellungen auf Teilzeitbeschäftigte. Im September waren es bereits 61,1 Prozent. Die Teilzeitbeschäftigten verdienen laut IKA-Berechnung mit durchschnittlich 338 Euro netto im Monat weniger als das staatliche Arbeitslosengeld von 360 Euro.


Die 200-Euro-Generation

Oft stehen die Teilzeitarbeitsverhältnisse allerdings nur auf dem Papier. „Tatsächlich werden viele Teilzeitbeschäftigte von den Arbeitgebern gezwungen, praktisch Vollzeit zu arbeiten“, weiß der frühere Arbeitsminister Giorgos Koutroumanis. Dadurch entgehen den Rentenkassen erhebliche Beiträge, sagt Koutroumanis. Die Betroffenen wagen es nicht, sich zu beschweren, weil sie wissen, dass sie ihren Job verlieren, wenn sie die Mehrarbeit verweigern.

Zu Beginn der Krise sprach man in Griechenland von der „650 Euro-Generation“. Gemeint waren junge Berufsanfänger, aber auch Akademiker, die in der Gastronomie oder im Einzelhandel jobbten. Dafür gab es damals rund 650 Euro. Der staatlich festgesetzte Mindestlohn betrug seinerzeit 751 Euro. Inzwischen haben sich die Einkommensverhältnisse dramatisch verschlechtert.

Jetzt macht das Wort von der „200 Euro-Generation“ die Runde. Heute beträgt der Mindestlohn für Vollzeitbeschäftigte unter 25 Jahren 510,95 Euro. Die tatsächlichen Löhne liegen aber oft weit darunter. Nach Berechnungen des Gewerkschaftsbundes GSEE verdienen mehr als 340.000 Beschäftigte zwischen 100 und 400 Euro im Monat, fast 130.000 bekommen sogar weniger als 100 Euro. Fast drei von zehn Beschäftigten arbeiten schwarz.

Die hohe Langzeitarbeitslosigkeit, die Schwarzarbeit und die schlecht bezahlten Teilzeitjobs sind eine soziale Zeitbombe. Den wenigsten dieser Menschen dürfte es gelingen, nennenswerte Rentenansprüche zu erwerben oder gar privat fürs Alter vorzusorgen. Sie sitzen in einer lebenslangen Armutsfalle.

Auch die heutigen Rentner müssen den Gürtel immer enger schnellen. „Meine Bezüge sind seit 2010 von 1250 auf 970 Euro gefallen“, erzählt der pensionierte Bankangestellte Babis Nikas. Manche Rentner berichten sogar von Kürzungen um 40 Prozent. Die Folge: Altersarmut wird zu einem immer größeren Problem. Nach Angaben des Rentnerverbandes Endisy bekommen fast 45 Prozent der Pensionäre weniger als 665 Euro im Monat – und leben damit unterhalb der Armutsgrenze.

Viele Menschen sind am Ende ihrer Kräfte, weiß Giorgos Protopapas, Direktor der SOS-Kinderdörfer in Griechenland: „Viele Familien haben die Rente der Eltern als einziges Einkommen. Nun bricht auch dieses mehr und mehr weg. Deshalb geht vielen Familien die Luft aus. Sie sind inzwischen absolut perspektivlos.“ Betreute die Hilfsorganisation vor der Krise etwa 50 Familien, sind es jetzt über 1800 bedürftige Familien mit mehr als 6000 Kindern und Erwachsenen.

Immer mehr junge Griechinnen und Griechen fliehen vor der Dauerkrise aus ihrem Land. Nach einer Schätzung der Bank von Griechenland sind seit 2008 rund 427.000 Menschen ausgewandert – überwiegend junge, gut ausgebildete Fachkräfte und Akademiker. Nach Berechnungen der Nichtregierungsorganisation Endeavor Greece tragen die Auswanderer in ihren Gastländern mit jährlich 12,9 Milliarden Euro zu deren BIP bei. Griechenland verliert also nicht nur seine besten Talente. Das Land blutet durch die Auswanderung auch finanziell immer weiter aus.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%