Drogen aus Südamerika Koks für die Welt

Im brasilianischen Regenwald sortiert die Mafia in diesen Wochen das weltweite Geschäft mit Kokain neu. Europa droht eine Schwemme billigster Drogen aus Südamerika.

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Eine südamerikanische Anti-Drogen-Einheit bereitet in Peru die Verbrennung von über zehn Tonnen Kokain und Mariuhana vor (Archiv-Aufnahme: 2015). Quelle: Getty Images

Die Regenwald-Siedlung Boa Frente könnte das Paradies sein, diese drei Dutzend Holzpfahlhäuser auf einer Lichtung hoch über dem Rio Madeira, inmitten des dichten Amazonaswaldes. Doch tagsüber liegen die Männer verkatert in ihren Hängematten. Sie schauen Telenovelas auf Flachbildschirmen. Ihre Frauen werfen den Müll aus dem Fenster hinter die Hütten und maniküren sich gegenseitig die Nägel. Zwischen Maniokpflanzen und pickenden Hühnern stehen mehrere nagelneue Pick-ups. Hier, wo es kaum Straßen gibt und die Menschen zu arm sind, um zum Arzt zu gehen. Nicht Geld, sondern Benzin in 1,5-Liter-PET-Flaschen abgefüllt, ist die liquideste Währung. Weil damit die Motoren der Blechkanus angetrieben werden. Die Entfernungen auf dem Fluss werden nicht in Kilometer oder Stunden gemessen, sondern in PET-Flaschen.

Mafialand: Transport des Kokains über den Amazonas und seine Nebenflüsse. (zum Vergrößern bitte anklicken)

Erst am frühen Abend kommt Bewegung auf: Die Männer machen sich auf mit ihren Blechkanus, die mit ihren Außenbordmotoren pfeilschnell über den Fluss flitzen. Wohin sie fahren, was sie machen – man bekommt keine Auskunft. Bei der Bar am Fluss, neben der Tankstelle für Boote, rät der Besitzer den Fremden, nicht viel zu fragen. Und vor allem, nicht zu neugierig auf den Fluss zu schauen, wenn jemand im Schutz der Dunkelheit vorbeifährt – und holt eine neue Flasche Johnnie Walker Red Label und einen Bottich Eis für die Männer, die mit ihren Speedkanus vorbeikommen. Die wenigen offiziellen Amazonasschiffe, die den Tag über anlegen – von Petrobras, dem staatlichen Ölkonzern, vom Gesundheitsdienst des Bundesstaates –, sind schwer bewacht: Neben dem Steuermann und hinten am Heck stehen Militärsoldaten mit Sonnenbrille, schusssicherer Weste und Maschinenpistole im Anschlag.

Die brauchen sie auch. Denn im Amazonas braut sich ein explosives Krisenszenario zusammen, das Brasilien in eine Gewaltspirale treibt – deren Konsequenzen jedoch auch in Europa zu spüren sein werden. Denn seitdem in Kolumbien die Guerilla-Gruppe Farc, die bisher 70 Prozent des Drogenhandels in Südamerika kontrollierte, im Rahmen eines Friedensprozesses zusagte, sich aus dem Kokaingeschäft zu verabschieden, nutzen neue Drogenmafias das Vakuum. Im Amazonas findet seitdem ein brutaler Bandenkrieg statt: Es geht darum, wer das Erbe der Farc antritt. „Der Abtritt der Farc führt zu einer geopolitischen Neuordnung der Drogenrouten in Südamerika“, beobachtet der brasilianische Politologe und Drogenexperte Paulo de Tarso von der Universität Campinas. „Das wird weltweite Verschiebungen im Drogenhandel mit sich bringen.“

Kampf mit allen Mitteln: Ein maskierter Polizist bei einer Razzia in Manaus. Quelle: Laif

Statt kolumbianischer Rebellen erobern brasilianische Drogenmafias den Markt – und die Schmuggelrouten für Kokain aus Kolumbien nach Europa. Schon heute gelangen auf diesem Weg Drogen im Wert von mehr als 30 Milliarden Euro, meist über das Einfallstor Hamburger Hafen, nach Europa. Und das ist erst der Anfang: Der Durchmarsch der Amazonasmafia dürfte die Kokainausfuhr nach Europa dramatisch steigen und damit in Europa die Preise fallen lassen. Die europäische Polizeibehörde Europol befürchtet in ihrem neuesten Bericht, dass „Europa zum Transitknoten für Lieferungen werden könnte für expandierende Kokainmärkte in Russland, China und Indien, im Nahen Osten oder in Australien“.

Die etwas andere Freihandelszone

Im Amazonasgebiet wird die Droge über Tausende von Flüssen mit ihren Nebenarmen transportiert. Auf Kanus wie in Boa Frente, auf Fracht- und Siloschiffen, die mitten auf dem Amazonas beladen werden, auf Fähren, welche die Flussstädte abklappern. Zwischenziel der Drogenkuriere ist die Amazonasmetropole Manaus, wo der Stoff gesammelt und reisefertig für den Transport nach Europa gemacht wird.

Riesig, chaotisch und unkontrollierbar

Die Zwei-Millionen-Einwohner-Metropole mitten im Regenwald mit dem Opernhaus der Kautschuk-Barone bietet sich dafür perfekt an: In einem Industriegebiet zwischen übrig gebliebenen Regenwaldstücken am Fluss – riesig, chaotisch und unkontrollierbar – werden dank einer großen Freihandelszone Motorräder, Autos, Waschmaschinen und Fernseher zusammengebaut. Die Teile und Bausätze kommen in Containerschiffen aus Asien und Europa. Auf dem Weg zurück bringen sie das Kokain zu den Hafenstädten im Nordosten Brasiliens oder transportieren es direkt über den Atlantik nach Norden.

Geschichte der Drogen: Raketentreibstoff und Panzerschokolade

Alleine im Februar beschlagnahmte die Polizei in Hamburg 700 Kilogramm Kokain, die größte Ladung, die dort seit 2010 ins Netz der Behörden ging. In England wurden 360 Kilogramm Kokain an die Küste geschwemmt, an Schwimmwesten gebunden. In Antwerpen beschlagnahmten die Fahnder mit 33,5 Tonnen 2015 bereits doppelt so viel Kokain wie im Jahr zuvor.

Die Alte Welt ist für die Drogenproduzenten aus Südamerika besonders attraktiv geworden. Einerseits fürchten die Produzenten, dass bald der Schmuggel in die USA erschwert werden könnte, wenn der neue US-Präsident Donald Trump die Grenze zu Mexiko tatsächlich schließen sollte. Andererseits sind die Gewinne im Kokaingeschäft mit Europa höher: Nach Angaben der US-Drogenbehörde DEA ist der Konsumentenpreis für Kokain mit umgerechnet 60.000 Dollar im Durchschnitt fast doppelt so hoch wie in den USA.

Die Drogen der Manager
Leistungspillen Quelle: dpa
BenzodiazepinePräparate wie Tavor, Valium oder Lexotanil, die zur Gruppe der Benzodiazepine gehören, sind schon lange in Managerkreisen im Einsatz. Es handelt sich um hochwirksame Beruhigungsmittel und Angstlöser. Vor allem Tavor ist in den Führungsetagen in den USA – aber zunehmend auch in Deutschland – weit verbreitet. Quelle: dpa
Ein Jugendlicher liegt 24.06.2010 in seinem Bett, auf dem Nachtisch liegen Schlaftabletten. Quelle: dpa
Ein Patient gähnt Quelle: dpa
Eine Packung des Medikaments Ritalin des Herstellers Novartis Quelle: dpa
Beschlagnahmte Mephedron-Tabletten, aus einem Amphetamin-Pulver, Quelle: dpa
Kokain Quelle: dpa

Traditionell verlaufen die Kokainschmuggelrouten aus Brasilien über den südlichen Teil Brasiliens: Das meiste Kokain wird aus Bolivien und Peru in die industrialisierten und reichen Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro geschmuggelt. Brasilien ist in wenigen Jahren selbst zum zweitgrößten Konsummarkt für Kokain und Crack weltweit geworden nach den USA. Doch die Transportrouten erweitern sich jetzt: „Am Amazonas geht es jetzt vor allem um die Kontrolle über neue Exportschmuggelrouten nach Europa“, sagt Marília Pimenta, brasilianische Sicherheitsforscherin an der Universität Syracuse. „Der interne Markt ist nicht mehr das Ziel.“

Anfang Februar trafen sich die Verteidigungsminister Brasiliens und Kolumbiens zu einem Krisengipfel in Manaus. „Wir müssen verhindern, dass die von der Farc aufgegebenen Drogenanbaugebiete nun von anderen militärischen Gruppen übernommen werden“, sagte Luis Carlos Villegas, der kolumbianische Verteidigungsminister bei dem Treffen. Doch das ist längst geschehen.

Der Frieden brachte den Konflikt

Statt weniger produziert Kolumbien heute mehr Kokain. Die Gewalt hat nicht abgenommen, sie nimmt sogar wieder zu – in Kolumbien, aber auch in Brasilien.

Der Weg der Drogen nach Europa

Zuletzt hatte die Drogenmafia 2007 so viel Coca angebaut wie derzeit. Die Anbaufläche konnte die Farc so schnell ausweiten, weil die Regierung ihnen zugesagt hatte, während der Verhandlungen keine Plantagen mehr mit Lufteinsätzen und Pflanzengiften zu zerstören. Die Farc nutzte diese Schonfrist, um die Produktion hochzufahren. Sie wollte finanzielle Reserven aufbauen, für die Zeit nach der Rückkehr in die Zivilgesellschaft, aber auch für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern würden. Für die Rekordproduktion suchen die neuen Chefs der Coca-Plantagen und Kokainlabors nun neue Abnehmer und Märkte.

Der brasilianische Amazonas bietet sich als Korridor an: Dort leben nur 25 Millionen Menschen auf der Fläche halb Europas.

Wie schwierig dort die Kontrolle ist, das zeigt sich in Tabatinga. Auf der kolumbianischen Seite heißt sie Leticia, eine Stadt im Dreiländereck zwischen Peru, Brasilien und Kolumbien. Die brasilianische Bundespolizei hat dort 30 Offiziere stationiert. Sie sollen ein Gebiet so groß wie Frankreich sichern. Den ganz in der Nähe kasernierten Militärs geht es nicht viel besser: Es sind 70 Soldaten. Sie sollen eine Grenze überwachen, die mit 10.000 Kilometern dreimal so lang ist wie die zwischen den USA und Mexiko.

Der Kampf der Knastmafias

Noch ist nicht ausgemacht, wer künftig den Drogenhandel am Amazonas kontrollieren wird. Derzeit kämpfen drei brasilianische Mafiagruppen brutal um die Kontrolle. Es sind Knastmafias, weil ihre Befehlshaber einsitzen und von den Gefängnissen aus den Drogenhandel und die Organisationen führen und neue Mitglieder rekrutieren. Auch ihre Kampfarenen sind die überfüllten Knäste am Amazonas. Dort dominiert die in der Region einflussreiche Familia do Norte, also Familie des Nordens. Sie kontrolliert bisher den Drogenhandel im Amazonasgebiet.

In der Silvesternacht töteten in Manaus Mitglieder der „Familia“ im Gefängnis von Manaus 56 Mitglieder der aus São Paulo stammenden PCC, des „Ersten Kommandos der Hauptstadt“, der am besten organisierten Drogenmafia des Landes, die sich das lukrative Geschäft am Amazonas unter den Nagel reißen will. Vier Tage später kam die Rache im Gefängnis der Amazonas-Provinzstadt Boa Vista. Dort köpften und vierteilten PCC-Mitglieder wiederum 31 Vertreter der Familie.

Hugo Acero, ehemaliger Sekretär für Sicherheit der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá und heutiger UN-Berater fürchtet, dass Brasilien die gleiche Entwicklung droht wie Mexiko. „Der Drogenhandel am Amazonas macht aus kleinen unorganisierten Banden in kurzer Zeit perfekt funktionierende Großunternehmen.“ So wie es in Mexiko geschehen ist: Dort boten sich lokale kriminelle Organisationen den Kokainproduzenten aus Kolumbien als Schmuggler in die USA an. In wenigen Jahren wurden aus den Logistikern, welche die Drogen in den Norden schmuggelten, mächtige Drogenmafias, die nun nach und nach begannen, selbst Drogen zu produzieren.

Drogen

Für Ethan Nadelmann von der nordamerikanischen Drug Policy Alliance, einer Lobbygruppe aus New York, die sich gegen die repressive US-Regierungspolitik einsetzt, braucht Brasilien eine neue Drogenpolitik: Legalisierung weicher Drogen, wie es etwa Uruguay vormache, statt mehr Repression und überfüllte Gefängnisse. Nadelmann sagt: „Brasiliens Städte erleben gerade eine Situation wie Chicago unter Al Capone.“

In den Hafenstädten an der nordbrasilianischen Atlantikküste lässt sich das beobachten: Noch vor Kurzem waren Natal, Salvador, Belém oder Maceió bei Touristen weltweit beliebte Geheimtipps: verschlafene Provinzstädte mit Traumstränden vor Kokospalmen. Doch inzwischen erreichen die Mordraten in den Provinzhauptstädten weltweite Spitzenwerte – wie sonst nur in Bürgerkriegsgebieten. Unter den 30 Städten mit den höchsten Mordraten weltweit befinden sich elf Gemeinden in Brasiliens Amazonasgebiet und Nordnordosten.

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