Die Zwei-Millionen-Einwohner-Metropole mitten im Regenwald mit dem Opernhaus der Kautschuk-Barone bietet sich dafür perfekt an: In einem Industriegebiet zwischen übrig gebliebenen Regenwaldstücken am Fluss – riesig, chaotisch und unkontrollierbar – werden dank einer großen Freihandelszone Motorräder, Autos, Waschmaschinen und Fernseher zusammengebaut. Die Teile und Bausätze kommen in Containerschiffen aus Asien und Europa. Auf dem Weg zurück bringen sie das Kokain zu den Hafenstädten im Nordosten Brasiliens oder transportieren es direkt über den Atlantik nach Norden.
Geschichte der Drogen: Raketentreibstoff und Panzerschokolade
Alexander von Humboldt bereist Lateinamerika und berichtet, wie Einheimische die Blätter der Kokapflanze konsumieren. Das zügelt ihren Appetit, und die harte Feldarbeit fällt ihnen leichter.
In Göttingen gelingt es dem Apotheker und Chemiker Albert Niemann, die aktiven Komponenten des Koka-Strauches zu isolieren. Er gibt dem Stoff den Namen Kokain. Weil er euphorisiert und betäubt, wird er zunächst bei Patienten mit Depressionen und bei Operationen eingesetzt.
1883 mischt der bayrische Militärarzt Theodor Aschenbrand seinen Soldaten Kokain ins Essen. Mit beeindruckendem Ergebnis: Selbst sehr erschöpfte und verwundete Soldaten fangen wieder an zu kämpfen.
Ein neues Mittel gegen Kopfschmerzen, Hysterie, Melancholie und Müdigkeit kommt auf den Markt: Coca-Cola. Sein Erfinder John Stith Pemberton bewirbt die Medizin als „Brain Tonic“ – zu Deutsch: Hirntrunk. Zeitweise soll ein Liter etwa 250 Milligramm Kokain enthalten haben.
Am 17. Dezember 1914 gibt es schärfere Gesetze in den USA: Der Missbrauch von Kokain wird unter Strafe gestellt. Der Stoff verschwindet aus Coca-Cola und wird durch Koffein ersetzt.
Während es mit der Wirtschaft bergab geht, hat der Kokainkonsum in Deutschland Hochkonjunktur. Hier wird er erst um 1930 verboten.
Knapp 40 Jahre, nachdem Amphetamin erstmals künstlich hergestellt wurde, testet der US-Chemiker Gordon Alles im Selbstversuch, wie der Stoff wirkt: stimulierend und euphorisierend.
1932 bringen US-Pharmafirmen ein Amphetamin-Präparat auf den Markt: Benzedrine soll Krampfanfälle von Asthmatikern lindern. Kurz darauf wird es auch gegen 40 weitere Krankheiten eingesetzt, zum Beispiel Allergien und Erkältungen.
Studenten der Universität Minnesota bemerken in einem Forschungsprojekt, dass Amphetamin Müdigkeit vertreibt, und sie benutzen es, um nächtelang zu lernen.
Benzedrine gibt es jetzt auch als Tablette. Und es wird bald ein Kassenschlager: Wer sich damit aufputscht, kann rund um die Uhr arbeiten.
1938 wird in Deutschland das Mittel Pervitin zugelassen und massiv beworben. In ihm steckt der Wirkstoff Methamphetamin, das noch stärker stimuliert als Amphetamin. Eine kleine Dosis der „Wunderdroge“ genügt, um 24 Stunden am Stück wach bleiben zu können.
Deutsche Soldaten fallen in Polen ein. Viele von ihnen stehen unter Drogen. Millionen Einheiten Pervitin – auch bezeichnet als „Panzerschokolade“ oder „Hermann-Göring-Pillen“ – halten die Wehrmacht und die Arbeiter in der Rüstungsindustrie wach und fit. Der Stoff nimmt den Soldaten Todesangst, Durst und Hungergefühl, steigert ihre Aggressivität und Leistungsbereitschaft.
Angesichts hoher Nebenwirkungen erkennt der „Reichsgesundheitsführer“ der Nazis im Jahr 1941 die „Pervitingefahr“. Das Mittel wird verschreibungspflichtig.
Im Zweiten Weltkrieg ziehen auch britische, amerikanische und japanische Soldaten mit Millionen von Amphetamin-Tabletten in den Krieg. Der Stoff versetzt sie in den sogenannten „Fight, Fright, Flight“-Zustand: Der Körper konzentriert sich auf „Kämpfen, Fürchten, Flüchten“ und das pure Überleben. Alle anderen Bedürfnisse werden abgeschaltet.
Der Chemiker Leandro Panizzon synthetisiert Methylphenidat – ein künstlicher und anregender Stoff, der Amphetamin ähnelt. Nach Jahrzehnten im Schattendasein wird es als Ritalin seinen Siegeszug antreten. Namensgeberin ist übrigens Marguerite Panizzon, die Ehefrau des Forschers: Sie nimmt das Mittel vor dem Tennisspielen und spielt gleich viel besser.
Auch wenn 1945 der Zweite Weltkrieg endet, geht der Konsum von Aufputschmitteln weiter: Lastwagenfahrer, Lohnschreiber und Studenten setzen auf die stimulierende und Schlaf verhindernde Wirkung von Amphetamin.
Die USA und 15 andere Nationen intervenieren im Koreakrieg. US-Soldaten injizieren sich „Speedballs“: Cocktails aus Heroin und Amphetamin, das sie „Splash“ nennen.
Der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl erklimmt im Himalaya den Nanga Parbat (8125 Meter) – auch dank Pervitin.
In Bern gewinnt die deutsche Nationalelf die Fußball-WM. Ihr Mannschaftsarzt wird später verdächtigt, den Spielern den „Raketentreibstoff“ Pervitin eingeflößt zu haben.
Ritalin ist jetzt auch in Deutschland zu haben: Wer schnell müde wird oder deprimiert ist, soll es nehmen, empfiehlt die Werbung – außerdem all jene, die nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tag Vollgas geben müssen.
Die USA bombardieren Ziele in Nordvietnam. In den folgenden Jahren werden an die US-Militärs in Indochina über 200 Millionen Einheiten Amphetamine verteilt.
Hippies in den USA berauschen sich an der „Liebesdroge“ MDMA – einem Amphetaminabkömmling, der später als Ecstasy bekannt wird.
In den USA werden die Gesetze verschärft: Wer Amphetamin ohne Genehmigung herstellt, besitzt oder damit handelt, macht sich strafbar. Präsident Richard Nixon erklärt dem „Staatsfeind Nummer eins“ den Krieg: Der „War on Drugs“ beginnt.
1971 löst in Deutschland das Betäubungsmittelgesetz das Opiumgesetz von 1929 ab. Die ungenehmigte Produktion von und der Handel mit Amphetaminen werden erst 1981 strafbar.
In den USA mehren sich die Fälle von heftigem Methamphetamin-Missbrauch: Der Konsum von „Crystal“ oder „Meth“ steigt bis heute immer weiter an. Der Stoff macht enorm abhängig, stürzt die Konsumenten in einen orgiastischen Rausch und ruiniert ihr Leben in kürzester Zeit.
Der Amphetaminabkömmling MDMA darf in den USA nicht mehr benutzt werden – dennoch hat er als Partydroge Ecstasy eine steile Karriere vor sich. Wer sie nimmt, kann zwar nicht besser arbeiten, aber besser feiern.
Während Methamphetamin in den USA um sich greift, wird das baugleiche Pervitin aus den Regalen der deutschen Apotheken verbannt. Ritalin, das lange frei verkäuflich war, darf nur noch in geringen Mengen abgegeben werden.
Vier Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center beginnt in Afghanistan die Operation „Enduring Freedom“. In dem jahrelangen Einsatz schlucken viele Soldaten Antidepressiva wie Prozac. Schon länger nehmen Piloten der US-Air-Force vor Kampfeinsätzen „go pills“ – kleine Dosen Amphetamin.
Alleine im Februar beschlagnahmte die Polizei in Hamburg 700 Kilogramm Kokain, die größte Ladung, die dort seit 2010 ins Netz der Behörden ging. In England wurden 360 Kilogramm Kokain an die Küste geschwemmt, an Schwimmwesten gebunden. In Antwerpen beschlagnahmten die Fahnder mit 33,5 Tonnen 2015 bereits doppelt so viel Kokain wie im Jahr zuvor.
Die Alte Welt ist für die Drogenproduzenten aus Südamerika besonders attraktiv geworden. Einerseits fürchten die Produzenten, dass bald der Schmuggel in die USA erschwert werden könnte, wenn der neue US-Präsident Donald Trump die Grenze zu Mexiko tatsächlich schließen sollte. Andererseits sind die Gewinne im Kokaingeschäft mit Europa höher: Nach Angaben der US-Drogenbehörde DEA ist der Konsumentenpreis für Kokain mit umgerechnet 60.000 Dollar im Durchschnitt fast doppelt so hoch wie in den USA.
Traditionell verlaufen die Kokainschmuggelrouten aus Brasilien über den südlichen Teil Brasiliens: Das meiste Kokain wird aus Bolivien und Peru in die industrialisierten und reichen Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro geschmuggelt. Brasilien ist in wenigen Jahren selbst zum zweitgrößten Konsummarkt für Kokain und Crack weltweit geworden nach den USA. Doch die Transportrouten erweitern sich jetzt: „Am Amazonas geht es jetzt vor allem um die Kontrolle über neue Exportschmuggelrouten nach Europa“, sagt Marília Pimenta, brasilianische Sicherheitsforscherin an der Universität Syracuse. „Der interne Markt ist nicht mehr das Ziel.“
Anfang Februar trafen sich die Verteidigungsminister Brasiliens und Kolumbiens zu einem Krisengipfel in Manaus. „Wir müssen verhindern, dass die von der Farc aufgegebenen Drogenanbaugebiete nun von anderen militärischen Gruppen übernommen werden“, sagte Luis Carlos Villegas, der kolumbianische Verteidigungsminister bei dem Treffen. Doch das ist längst geschehen.
Der Frieden brachte den Konflikt
Statt weniger produziert Kolumbien heute mehr Kokain. Die Gewalt hat nicht abgenommen, sie nimmt sogar wieder zu – in Kolumbien, aber auch in Brasilien.
Der Weg der Drogen nach Europa
Zuletzt hatte die Drogenmafia 2007 so viel Coca angebaut wie derzeit. Die Anbaufläche konnte die Farc so schnell ausweiten, weil die Regierung ihnen zugesagt hatte, während der Verhandlungen keine Plantagen mehr mit Lufteinsätzen und Pflanzengiften zu zerstören. Die Farc nutzte diese Schonfrist, um die Produktion hochzufahren. Sie wollte finanzielle Reserven aufbauen, für die Zeit nach der Rückkehr in die Zivilgesellschaft, aber auch für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern würden. Für die Rekordproduktion suchen die neuen Chefs der Coca-Plantagen und Kokainlabors nun neue Abnehmer und Märkte.
Der brasilianische Amazonas bietet sich als Korridor an: Dort leben nur 25 Millionen Menschen auf der Fläche halb Europas.
Wie schwierig dort die Kontrolle ist, das zeigt sich in Tabatinga. Auf der kolumbianischen Seite heißt sie Leticia, eine Stadt im Dreiländereck zwischen Peru, Brasilien und Kolumbien. Die brasilianische Bundespolizei hat dort 30 Offiziere stationiert. Sie sollen ein Gebiet so groß wie Frankreich sichern. Den ganz in der Nähe kasernierten Militärs geht es nicht viel besser: Es sind 70 Soldaten. Sie sollen eine Grenze überwachen, die mit 10.000 Kilometern dreimal so lang ist wie die zwischen den USA und Mexiko.