Ein Jahr nach dem Putschversuch So radikal hat sich die Türkei verändert

Ein Jahr liegt der Putschversuch in der Türkei bereits zurück. Seither hat das Land einen nachhaltigen Wandel durchlebt. Insbesondere eine Gruppe hat davon profitiert.

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Am 16. Juli scheiterte der Putschversuch in der Türkei. Viele Erdogan-Anhänger feierten das. Quelle: dpa

Istanbul Der Putschversuch in der Türkei vor einem Jahr hat das Land nachhaltig verändert. Gleichzeitig sind im Westen viele ratlos ob der Umstände, die zum Aufstand geführt haben. Wie lauten die Zusammenhänge zwischen Gülen, Erdogan und dem Umsturz? Das Handelsblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.

Wer war am Putschversuch beteiligt?

Anders als bei militärischen Umstürzen üblich war nur ein Teil der Armee beteiligt. Begonnen haben die Vorgänge damit, dass Soldaten – darunter vor allem Wehrdienstleistende – auf die Istanbuler Bosporus-Brücke geschickt worden sind, um sie zu blockieren. Es wird vermutet, dass zumindest ein Teil dieser Mannschaftler keine Ahnung gehabt hat, wofür sie eingesetzt wurden.

Befehlshaber in der Kommandokette der Putschisten waren den bisher veröffentlichten Anklageschriften und Recherchen zufolge mehrere Generäle, die in der Luftwaffe, der Panzertruppe und der Gendarmerie des Landes eingesetzt waren. Darüber hinaus sind mehrere Zivilisten angeklagt, die der sogenannten Gülen-Bewegung angehören und den Putsch orchestriert haben sollen. Einer der Hauptbeschuldigten ist vor den Behörden geflohen.

Wie viele Personen sind bei dem Putschversuch gestorben?

Laut türkischer Regierung sind 249 Menschen in der Nacht zum 16. Juli 2016 umgekommen. Dazu zählen allerdings nicht diejenigen Soldaten, die den Umsturzversuch unternommen haben. In den Tagen nach den Vorfällen gab die Regierung die Zahl getöteter Putschisten noch mit rund 100 an. Später wurden dazu keine Angaben mehr gemacht. „Wir zählen Terroristen, die das Parlament bombardiert haben, nicht zusammen mit Menschen, die von Panzern überfahren wurden. Aus Respekt“, heißt es laut Nachrichtenagentur dpa zur Begründung. Ob jedoch einzelne beim Putsch eingesetzte getötete Soldaten überhaupt wussten, wofür sie eingesetzt worden waren, ist nicht bekannt.

Alle – aus Sicht der Regierung „echten“ – Putschopfer, ob Zivilisten oder Soldaten, sind als „Märtyrer“ eingestuft worden. Das hat für die Hinterbliebenen zur Folge, dass sie Anspruch auf staatliche Unterstützung haben.

Wer ist für den Putschversuch verantwortlich?

Die türkische Regierung sowie ein Großteil der Medien und der Gesellschaft des Landes machen die Bewegung des Islam-Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. Die Gülen-Bewegung existiert seit mehr als 40 Jahren und ist eine von mehreren Religionsgemeinschaften im Land. Mit seinem Fokus auf Bildung und einer strikten Hierarchie hat Gülen mit der Zeit eine kultivierte und loyale Gefolgschaft um sich herum aufzubauen.

Darüber hinaus betrieb er systematisch die Unterwanderung des Staatsapparates. Der türkische Enthüllungsjournalist Ahmet Sik, der zuletzt für die regierungskritische Zeitung Cumhuriyet geschrieben hatte, fand bereits 2011 heraus, dass 80 Prozent des türkischen Polizeiapparates der Gülen-Bewegung Folge leisteten.

Darüber hinaus wird vermutet, dass sich oppositionelle Kreise angeboten haben, den Umsturz zu unterstützen. Gülen selbst bestritt zuletzt in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, etwas mit den Putschplänen zu tun gehabt zu haben. Auch westliche Staaten haben zum Teil Zweifel an den Zusammenhängen. In Ankara stehen inzwischen 221 Menschen vor Gericht, darunter 27 ehemalige Generäle. Im Küstenort Mugla müssen sich 38 Armee-Mitglieder vor Gericht verantworten. Diese haben eine Beteiligung am Putsch zugegeben – bestreiten allerdings, Mitglieder der Gülen-Bewegung zu sein.


Gülen soll den Putsch organisiert haben

Warum soll Gülen als ehemalige Verbündeter Erdogans einen Putsch orchestriert haben?

In der Tat verband Erdogans AKP und die Gülen-Bewegung bis 2013 zunächst keine Feindschaft, sondern eine strategische Allianz. Die AKP, die in ihren Anfangsjahren einen liberalen Reformkurs im Land anstrebte, benötigte einen konservativen Unterbau, um im religiös orientierten Teil der Bevölkerung – einem wichtigen Teil der Wählerschaft – Unterstützung zu finden. Außerdem hatte Gülen zu dem Zeitpunkt beste Beziehungen in den Westen. Weltweit soll die Bewegung bis zu acht Millionen Mitglieder und ein Vermögen von rund 50 Milliarden US-Dollar aufweisen. Bis vor kurzem gehörte auch die größte türkische Tageszeitung Zaman zum Gülen-Lager. Diese Maschinerie half Erdogan lange dabei, sein Image im Westen aufzupolieren.

Gülen und Erdogan bezwangen zwischen 2007 und 2013 ihren gemeinsamen Feind: die Kemalisten und das Militär, das sich bis dahin als Staat im Staat sah. Als dieser Kampf mit zahlreichen Urteilen gegen Offiziere und Generäle gewonnen war, wurden die freien Posten in der Armee vor allem mit Gülenisten besetzt. Dann brachen Verteilungs- und Machtkämpfe zwischen dem Erdogan- und dem Gülen-Flügel in der Machtelite aus. Mit Beginn der sogenannten Gezi-Proteste und einem Korruptionsskandal Ende 2013 wandte sich Erdogan von Gülen ab. Er warf ihm schon damals vor, mit den beiden Ereignissen einen Putsch herbeiführen zu wollen.

In der Folge wurden bereits 2014 erste Gülen-Anhänger aus dem Staatsapparat entfernt. Diese Säuberungen wurden ab 2015 intensiviert. Für Anfang August 2016 – zwei Wochen nach dem Putschversuch also – sollte ein hohes türkisches Militärgremium über die Entlassung zahlreicher Gülenisten aus dem Generalstab entscheiden. Dies soll der Anlass für die Anhänger des Predigers im Militär gewesen sein, den Aufstand anzuzetteln. Die Ereignisse vom 15. Juli 2016 waren demnach der Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Erdogans Anhängern und der Gülen-Bewegung. Gleichzeitig würde es erklären, warum nur ein kleiner Teil des Militärs mitspielte: Die Befehlshaber der restlichen Truppen waren vermutlich nicht von den geplanten Säuberungen in der Armee betroffen. Der Kommandeur der 1. Armee etwa, Ümit Dündar, gilt als staatstreu. Seine Truppen gehörten zu den ersten, die sich den Putschisten in den Weg stellten. Inzwischen ist Dündar zum Vize-Militärchef aufgestiegen.

Seit dem Putschversuch trägt Erdogan den Kampf gegen Gülenisten offen aus. Kritiker klagen, Erdogan verhalte sich seitdem wie ein Autokrat. Befürworter argumentieren, Erdogan stelle die Demokratie wieder her.

Welche Folgen hatte der Umsturzversuch?

Vier Tage, nachdem der Aufstand endgültig abgewendet worden war, rief Staatspräsident Erdogan den Ausnahmezustand für das Land aus. Er hält immer noch an und ist an diesem Freitag für weitere drei Monate verlängert worden.

Seit der Ausrufung des Ausnahmezustands hat die Entlassungswelle ein beispielloses Niveau erreicht. Über 150 Medienhäuser wurden geschlossen. Etwa genauso viele Mitarbeiter von Medienhäusern und 50.000 weitere Personen sind festgenommen worden. Über 160.000 müssen sich vor Gericht verantworten. Mehr als 140.000 Beamte wurden aus dem Staatsdienst entlassen; hauptsächlich mutmaßliche Gülen-Anhänger, aber auch zahlreiche Oppositionelle. Erdogan nannte den Putschversuch am Tag danach „ein Gottesgeschenk“.


Hat Erdogan den Putsch inszeniert?

War der Putschversuch inszeniert?

Diese Frage wird sowohl in der Türkei als auch im Ausland oft gestellt. Im Kern dreht sich die Diskussion um die parallele Frage, ab wann staatliche Behörden von dem Putsch gewusst haben – und warum sie ihn folglich nicht verhindert haben. Nach Angaben der türkischen Denkfabrik Seta erreichten den Geheimdienst am 15. Juli um 16:00 Uhr erste Informationen über irreguläre Vorgänge in einzelnen Kasernen. Den Ermittlungen zufolge lautete der Informationsstand zum damaligen Zeitpunkt, dass ein Putschversuch um 3 Uhr nachts bevorstehen könnte. Vermutlich haben die Planer des Umsturzversuchs mitbekommen, dass die Regierung informiert worden war. In der Folge wurde der Schlag um sechs Stunden vorgeschoben.

Eine Inszenierung kann zum derzeitigen Zeitpunkt zwar nicht vollständig ausgeschlossen werden, gilt aber selbst in Oppositionskreisen als unwahrscheinlich – nicht zuletzt wegen der hohen Opferzahl. Gleichzeitig ist nicht auszuschließen, dass zumindest Teile der politischen Führung vorab informiert gewesen sind. Je nachdem hätte die Regierung in dem Fall den Tod vieler Menschen in Kauf genommen, um daraus politisches Kapital zu schlagen.

Wie wird an die Nacht erinnert?

Kurz gesagt: mit viel Tamtam. Seit Tagen sind U-Bahn-Stationen und Reklametafeln mit Erinnerungspostern beklebt worden. Der Tenor auf den stilisierten und stark bearbeiteten Fotos ist immer derselbe: Zivilisten besiegen das Militär. Dass das nur die halbe Wahrheit ist, scheint die Regierung nicht zu kümmern. In der Öffentlichkeit ist derweil eine Debatte darüber entfacht, ob nicht auch dem Militär Ehre gebührt – waren es neben mutigen Zivilisten schließlich auch Einheiten wie die der 1. Armee, die die Putschisten in die Knie gezwungen haben.

Doch das passt nicht zum Mythos Erdogans. Und so wird der Präsident nicht müde, von einem Sieg des Volkes über die Putschisten zu sprechen. Damit legitimiert er indirekt auch die noch härtere Gangart gegenüber Gülenisten und Oppositionellen. In dem Mythos, den Ankara verbreiten lässt, ist das Volk Opfer der Gülen-Sekte geworden.

Um 2:32 Uhr in der Nacht zum Sonntag wird Erdogan im Parlament sprechen – zu dem Zeitpunkt vor einem Jahr bombardierten die Putschisten das Abgeordnetengebäude in der Innenstadt Ankaras, übrigens in Sichtweite der Deutschen Botschaft. Darüber hinaus sind Demokratiekundgebungen geplant. Der Betreiber eines Nachtclubs an der Südküste des Landes, der zum Jahrestag eine „Demokratie-Party“ ausrichten wollte, erhielt heftige Kritik für sein Vorhaben. Letztlich entschuldigte er sich für seinen Plan und sagte die Party ab.


Die Opposition ist gespalten, die AKP stark wie nie

Wie stehen Regierung und Opposition heute da?

Besonders die prokurdische HDP ist hart von den Säuberungen getroffen worden. Die beiden ehemaligen Co-Vorsitzenden sitzen im Gefängnis, etliche Abgeordnete der Partei ebenfalls. Der größte Teil der Opposition sieht zwar in der AKP den gemeinsamen Gegner. Untereinander jedoch ist die „andere Hälfte des Landes“ ziemlich zerstritten. Während die rechtsnationale MHP teilweise die Regierung stützt, will sich die zuletzt glanzlose CHP nun als Gerechtigkeitspartei inszenieren; ein Attribut, das auch die AKP für sich beansprucht.

Gemeinsam haben viele Oppositionelle, dass sie sich nicht mehr trauen, auf die Straße zu gehen – aus Angst, festgenommen zu werden. „Ich glaube, dass nach dem Putschversuch und dem anschließenden Ausnahmezustand, der immer noch anhält, viele ein ‚Korsett der Angst‘ tragen“, sagte der CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu zuletzt im Interview mit dem Handelsblatt. Er ist der Letzte, der sich mit aller Wortgewalt gegen die Führung in Ankara und den Präsidenten des Landes stellt. Im Interview sagte er außerdem: „Im Moment besteht die Türkei aus einem Ein-Mann-Regime mit einem Diktator an der Spitze.“

Die Regierungspartei sieht sich stark wie nie. Tatsächlich hat sie aber einen Teil ihres Rückhalts in der Bevölkerung eingebüßt. In früheren Wahlen erreichte sie beinahe Zweidrittelmehrheiten. Bei einem jüngst abgehaltenen Verfassungsreferendum reichte es gerade einmal für gut 51 Prozent. Bei der Parlamentswahl im Juni 2015 verpasste die AKP sogar die absolute Mehrheit. Auch intern gibt es Querelen. Frühere Parteigrößen halten sich inzwischen aus der Politik raus. Außerdem soll Präsident Erdogan Pläne haben, die Regierung des Landes neu zu besetzen, was für zusätzliche Unruhe sorgt.

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