Ein Jahr nach Putschversuch Repressionen werden in der Türkei anhalten

Der Umgang mit den Putschisten in der Türkei ist auch ein Beleg für die Spaltung im Land. Staatschef Erdogan ist nicht der Urheber dieser Problematik. Aber er will offenbar auch keine Lösung mehr anbieten. Eine Analyse.

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Istanbul Als Tayyip Erdogan in der Nacht zum Sonntag im Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Ankara zum Mikrofon gegriffen hat, scharte der türkische Präsident fast nur seinesgleichen um sich herum. Die größte Oppositionspartei CHP hatte eine Teilnahme an der nächtlichen Gedenkveranstaltung zum Putschversuch vor einem Jahr in letzter Minute abgesagt, andere Oppositionsgruppen boykottieren die Veranstaltung ebenfalls. Das ist bedauernswert und doch symptomatisch in dem Land, das von einem gesellschaftlichen Konsens schon immer weit entfernt gewesen ist.

Es zeigt aber noch mehr. Erdogan ist nicht mehr an einer gesellschaftlichen Einigung interessiert. Dem Machterhalt hat er inzwischen alles andere untergeordnet. Aus seiner Sicht mag das gute Gründe haben – aber gleichzeitig fatale Folgen.

Der Putschversuch belegt das aufs Neue. Am 15. Juli 2016 versuchten türkische Soldaten, die Regierung zu stürzen und Erdogan umzubringen. Sie setzten Panzer, Kampfflugzeuge und Hubschrauber ein, bombardierten das Parlament und andere Orte. Tausende folgten in der Nacht einem Aufruf Erdogan und gingen auf die Straße und übten Widerstand, wobei sie eine von den Putschisten ausgerufene Ausgangssperre ignorierten.

Rund 250 Menschen starben und etwa 2.000 wurden verletzt. Auch zahlreiche Putschisten kamen ums Leben. Aber der Putsch scheiterte am Ende, Erdogan blieb an der Macht. Verantwortlich gemacht wird vorrangig die Gülen-Bewegung. Es ist aber nicht auszuschließen, dass auch andere oppositionelle Kreise den Umsturzversuch unterstützt haben.

Das Volk stellte sich jedenfalls anschließend weitestgehend hinter Erdogan, der Großteil des Militärs ebenfalls, bei anschließenden Auftritten beklatschte ihn sogar die Opposition. Alles gut also? Nein. Erdogan hat mehrere Rechnungen offen. Mit Gülen, mit der PKK, mit säkularen Eliten, mit der Opposition. Und obwohl er einst angetreten war, es allen recht zu machen, haut er heute alles um sich herum klein.

Dabei ist es nicht der aktuelle türkische Staatschef, der diese Spaltungen hervorgerufen hat. Die gab es schon immer. Als bei den ersten freien nationalen Wahlen im Jahr 1950 die konservative Demokratische Partei als Siegerin hervorging, wurde das Land zehn Jahre lang stabil regiert. Allein, das säkular orientierte Militär hatte andere politische Vorstellungen als der damalige Ministerpräsident Adnan Menderes. 1960 putschte das Militär, der Fall war damit erledigt.


160.000 Menschen müssen vor Gericht

Später kamen kurdische Extremisten hinzu, außerdem religiöse Gruppen, von denen die Gülen-Bewegung die bekannteste ist. Die Spaltung in der großen Politik setzte sich im Kleinen in der Gesellschaft fort. Der 63-jährige Erdogan, in einer erzkonservativen Familie im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa großgeworden, musste seit seiner Kindheit miterleben, wie er und sein direktes Umfeld als schlechterer Teil der Gesellschaft behandelt worden waren. Als Absolvent einer der seltenen religiösen „Imam-Hatip“-Schulen soll Erdogan früher selbst einmal gesagt haben, mit dieser Ausbildung könne er bestenfalls Leichenwäscher werden, mehr nicht. Selbst als er es dann doch zum Bürgermeister der größten Stadt des Landes geschafft hatte, brummte man ihm eine Gefängnisstrafe auf – weil er öffentlich ein religiöses Gedicht rezitierte, das zu dem Zeitpunkt in jedem türkischen Schulbuch nachzulesen war.

Inzwischen ist Erdogan Staatspräsident, und jetzt nimmt er Rache. Rache an den Kemalisten, die Leuten seiner Herkunft früher nichts zugetraut haben. Rache an säkularen Eliten, die jahrzehntelang auf ihn herabgeschaut haben. Rache an der PKK, mit denen er einst Friedensgespräche begonnen hatte. Und Rache an Gülen, der ihn nach seiner Lesart hinter’s Licht geführt hat.

Das alles ist keine Rechtfertigung für die Folgen, die seine Rachefeldzüge haben. Denn die sind gewaltig. Säkulare Stiftungen haben in dem Land nichts mehr zu sagen, es dominieren fromme Organisationen. Das Gleiche gilt in der Wirtschaft, wo mehr und mehr Großaufträge an AKP-treue Konzerne vergeben werden. Viel schlimmer: Dem Kampf gegen die terroristische PKK fallen nicht nur Mitglieder der Gruppe zum Opfer, sondern auch Zivilisten. Erdogan nimmt das in Kauf. Am härtesten trifft es Mitglieder der Gülen-Bewegung. Keine Frage, die Gruppe hat jahrelang das Staatswesen unterwandert. Der Putschversuch vor einem Jahr geht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Kappe einzelner ranghoher Gülenisten im Militär und bei der Polizei.

Doch seitdem sind über 50.000 Menschen festgenommen worden, mehr als 160.000 müssen sich vor Gericht verantworten. Darüber hinaus wurden fast 150.000 Beamte aus dem Dienst entlassen oder davon suspendiert. Erst am Freitag kamen 7.200 weitere hinzu. Viele davon behaupten, nie mit Gülen zu tun gehabt zu haben. Sie sind vermutlich lediglich Oppositionelle.

Damit sorgt Erdogan nicht für den nötigen Ausgleich, sondern dreht die Verhältnisse einfach um. Wie du mir, so ich dir.

Die Repressionen gegen Andersdenkende werden daher anhalten. Unsere Kritik aus Europa daran ist zwar wichtig und kann eindämmend wirken, wird aber die Grundrichtung nicht aufhalten können. Erdogan ist an einem Punkt angelangt, an dem er gar nicht mehr anders kann, als seine Feinde auszuschalten, bevor sie ihn ausschalten. Er muss sich nur an das Jahr 1960 zurückerinnern, um zu sehen, was ihm beim Verlust seiner Macht drohen könnte. Adnan Menderes, der durch den damaligen Putsch abgesetzte Ministerpräsident, wurde nämlich anschließend vom Militär erhängt.

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