Einblick

Im Orwell Office

Die US-Regierung führt „alternative Fakten“ ein. Opposition wird in Medien und Politik zur unerlässlichen demokratischen Tugend.

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Trump-Sprecher Spicer: Es ist unsere Absicht, Sie nie anzulügen

Seit der Wende zum 20. Jahrhundert gibt es Bewiesenes und Unbewiesenes, was so viel heißt wie Gerüchte, Fälschungen oder auch neudeutsch: Fakes. Dazwischen gab es nichts. Bis zum vergangenen Sonntag. Da brachte Kellyanne Conway, Beraterin des neuen US-Präsidenten, live in einer US-Fernsehsendung das Konzept der „alternativen Fakten“ in die Diskussion ein.

„Alternative Fakten sind keine Fakten, sondern Lügen“, antwortete der Moderator der Sendung. Damit wäre das Thema unter normalen Umständen erledigt. Aber wir haben keine normalen Umstände.

Die glasklare Unterscheidung zwischen faktenbasierter Wahrheit und Lügen zieht sich durch die aufgeklärte Zivilisation. Der französische Philosoph René Descartes hat vor rund 400 Jahren gesagt: „Ich denke, also bin ich.“ Er hat nicht gesagt „ich denke, also bin ich im Recht“.

Für eine aufgeklärte demokratische Gesellschaft ist die Bereitschaft, alles infrage zu stellen und nach Beweisen für das Angenommene zu suchen, eine wesentliche Voraussetzung. Karl Popper, ebenfalls Philosoph, hat das in den Satz gegossen, „dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden“.

Damit ist es erst einmal vorbei. Der US-Präsident und seine Berater streiten allen Ernstes seit Tagen mit Medien und Bevölkerung darüber, wie groß die Menschenmenge bei seiner Vereidigung war. Millionen von illegalen Wählerstimmen sollen schuld sein, dass er bei den Direktstimmen („popular vote“) zurücklag.

Chance für die Medien

Weil es den Klimawandel nicht geben soll, werden alle Verweise darauf von der Website des Weißen Hauses gelöscht. Aber es bleibt nicht bei Worten. Zu Pressekonferenzen, ja selbst zum ersten Auftritt vor den Geheimdiensten sind Claqueure zur Stelle, die schon einmal für Stimmung sorgen. Der Präsident bewirtschaftet die „Faktenlage“ so variantenreich, wie man ein Immobilienimperium in kürzester Zeit aufbaut. Mit allen Mitteln.

Für die Medien liegt in alledem eine Chance. Ihr Geschäftsmodell ist unter Druck geraten, auch durch die Angebote der großen Internetfirmen, auf deren Seiten allerdings auch die Gerüchteküche brodelt. Professionell arbeitender Journalismus resultiert aus der Erkenntnis, dass Macht Opposition braucht. Wenn in den USA das Orwell’sche „Neusprech“ seine Blüte erlebt, wird Widerspruch zur demokratischen Tugend. Deshalb darf Journalismus das Faktenchecken nicht an Facebook delegieren.

Gleiches gilt für die Politik. Kommunikativ mag es eine glatte Sechs sein, dass selbst die SPD-Führung erst über die Medien von Sigmar Gabriels Entscheidung erfahren hat, nun doch nicht als Kanzlerkandidat anzutreten. Aber ihm gebührt Respekt dafür, dass er zugunsten der SPD verzichtet. Ob die tatsächlich noch zum Regieren geeignet ist, darüber kann man nach dieser Volte erneut streiten. Aber zu einer neuen und frischeren Opposition könnte sie werden. Das ist kein alternatives Faktum, sondern meine Meinung. Und dazu nehme ich Ihren Widerspruch freudig entgegen.

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