Entwicklungsländer Gefangen im Krankenhaus

Auf die Behandlung folgt eine Art Geiselhaft: In vielen Entwicklungsländern dürfen Patienten eine Klinik erst dann verlassen, wenn die Rechnung komplett beglichen ist. Ohne genügend Geld sitzen manche monatelang fest.

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In Entwicklungsländern werden während eines Krankenhausaufenthaltes häufig unregulierte Gebühren erhoben. Das Krankenhaus darf erst verlassen werden, sobald das Geld bezahlt ist. Quelle: AP

Beni Das Baby von Faida Mwenge ist schon drei Monate alt. Der Junge musste per Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden. Inzwischen sind beide wohlauf. Aus medizinischer Sicht hätten sie längst nach Hause gehen können. Doch das Krankenhaus im Osten des Kongos verlangt noch etwa 190 Dollar (160 Euro) von der 20-jährigen Frau. Bis die gezahlt sind, werden sie und der kleine Jospin wie Gefangene auf dem Gelände festgehalten.

Mwenge ist kein Einzelfall. Das britische Institut Chatham House geht davon aus, dass weltweit mehrere Hunderttausend Menschen betroffen sind. Für einen am Mittwoch veröffentlichten Bericht haben Experten neun Studien sowie Zeitungsartikel aus 14 Ländern ausgewertet. Dabei fanden sie für den Zeitraum von 2003 bis 2017 mehr als 950 bestätigte Fälle in Afrika und Lateinamerika. Darunter war in Kenia auch ein Fall, bei dem vor acht Jahren in einer einzigen Klinik mehr als 400 Patienten eingesperrt waren.

„Es scheint sich um ein systematisches Vorgehen zu handeln“, sagt der Chatham-House-Forscher Robert Yates. „In Ländern, in denen das Erheben von Gebühren weit verbreitet und nicht reguliert ist, sehen wir ein großes Problem.“ Die Datengrundlage sei zwar begrenzt, aber schon eine grobe Hochrechnung lasse auf Schlimmes schließen. Auch wenn wohl alle Länder sagen würden, dass so etwas illegal sei - „das Recht wird nicht durchgesetzt. Die Gesundheitseinrichtungen stehen über dem Gesetz und halten Menschen als Geiseln, bis ihre Familien die Rechnungen bezahlen.“

Yates und seine Kollegen stellten zudem fest, dass besonders häufig Frauen wie Mwenge betroffen sind, die wegen unerwarteter Komplikationen bei einer Geburt medizinische Hilfe benötigen. In vielen afrikanischen Kliniken gibt es laut dem Bericht für zahlungsunfähige Patienten sogar einen speziellen Gebäudetrakt. Der ähnelt einem Gefängnis und wird von Aufsehern bewacht. Und: Die Betroffenen müssen zum Teil offenbar unter erbärmlichen oder menschenunwürdigen Bedingungen leben. Eine nigerianische Frau sei an das Abflussrohr eines Urinals gekettet worden. In Kenia seien Frauen vom Personal zu Sex gezwungen worden, um auf diese Art die Rechnungen begleichen zu können.

Pierrot Kabemba ist in der kongolesischen Region Beni, in der Mwenge festgesetzt wurde, der leitende Gesundheitsbeamte. Er bestreitet nicht, dass Patienten oft festgehalten werden, bis sie für ihre Behandlung bezahlt haben - auch im Fall von Schusswunden, die in der Unruhe-Region nicht selten sind. „Oft geben am Ende Nichtregierungsorganisationen das Geld, wenn Patienten bereits viele Tage in einem Krankenhaus verbracht haben“, sagt er.


Kein seltenes Vorgehen

Die Zahlen der britischen Studie decken sich mit den Erfahrungen vieler Hilfskräfte vor Ort. „Die Menschen erleben so etwas in fast allen Gesundheitseinrichtungen – und ihnen ist womöglich gar nicht bewusst, dass das eigentlich nicht normal ist“, sagt Mit Philips von der Organisation Ärzte ohne Grenzen. „Die Krankenhäuser sind in der Regel nicht stolz drauf, aber sie machen auch kein großes Geheimnis daraus.“

Gesundheitsexpertin Sophie Harman von der Queen Mary University in London schätzt, die Behörden in den betroffenen Ländern hätten oft keine echte Motivation, das Problem anzugehen. „Niemand sieht ein strategisches Interesse darin, dieses Fass aufzumachen“, sagt sie. „Die Regierungen müssten mit großem Widerstand von dem ohnehin überlasteten medizinischen Personal rechnen.“ Und Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation würden vermutlich nicht riskieren wollen, einzelne Mitgliedstaaten mit einer direkten Konfrontation zu brüskieren.

Die WHO hat die illegale Gefangenhaltung von Patienten zwar schon verurteilt. Die UN-Behörde räumt aber ein, bisher nicht genügend gegen die Praxis getan zu haben. „Es ist lange Zeit ein wenig unter dem Radar gewesen, aber wir bemühen uns verstärkt darum, dass die Menschenrechte nicht missachtet werden“, sagt Agnes Soucat, WHO-Direktorin für den Bereich Gesundheitssysteme, Regierungsführung und Finanzierung. Die Organisation habe noch nicht schriftlich gegenüber den Ländern betont, dass das Festhalten von zahlungsunfähigen Patienten inakzeptabel sei.

Betroffenen wie Mwenge im Kongo bleibt bis auf Weiteres nichts anderes übrig, als Stück für Stück die geforderten Summen irgendwie zusammenzukratzen. Mithilfe von Freunden und Verwandten hat die 20-Jährige bisher etwa 70 Dollar (60 Euro) aufbringen können. Insgesamt muss sie für den Kaiserschnitt allerdings 260 Dollar (220 Euro) bezahlen. Von der Entbindungsstation ist Mwenge mit ihrem Sohn daher in einen anderen Teil des Krankenhauses gewechselt. Dort reinigt sie die Wäsche anderer Patienten, um auf diese Art etwas Geld zu verdienen.

Die Nachrichtenagentur AP stieß bei einem Rundgang durch die Einrichtung im kongolesischen Beni auf etwa ein Dutzend weitere Patienten, die ebenfalls gegen ihren Willen auf dem Gelände festgehalten wurden. „Mein Mann hat im Moment keine Arbeit. Ich habe bereits meine Bettlaken und andere Dinge, die ich in die Klinik mitgebracht hatte, abgegeben“, sagt Mwenge. „Aber ich darf immer noch nicht gehen.“

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