In Brüssel betrachtet man diese Entwicklung voller Sorge. „Erdoğan arbeitet jetzt erst recht auf ein Ein-Mann-System hin“, heißt es dort. Visafreiheit für türkische Bürger, als Teil des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei für Oktober geplant, „ist nach ganz hinten in den Kühlraum gerutscht“, sagt ein hoher EU-Beamter. Niemand rechnet mehr damit, dass die Türkei wie gewünscht ihre Antiterrorgesetzgebung verändert.
Und führt Erdoğan die Todesstrafe wieder ein, sind die – ohnehin längst zur Farce gewordenen – Verhandlungen über einen EU-Beitritt endgültig Makulatur.
Brüssel verfügt über Druckmittel: Von den drei Milliarden Euro, die der Türkei im Rahmen des Flüchtlingsdeals versprochen wurden, sind erst 750 Millionen Euro ausgezahlt. Weitere 1,25 Milliarden sind verplant. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die nun schnell fließen werden“, sagt ein Entscheider. Allerdings befindet sich Brüssel in einer Zwickmühle. Das Geld soll schließlich an Flüchtlinge fließen, etwa damit syrische Kinder wieder Unterricht erhalten.
Es mehren sich aber ohnehin die Zweifel am EU-Flüchtlingsabkommen mit den Türken. Kann es gültig bleiben, wenn Erdoğan noch autoritärer und brutaler regiert? Was passiert, sollten sich die politischen Spannungen innerhalb des Landes verstärken? Flüchtlinge, die in der Türkei politisch verfolgt werden, sind nämlich vom aktuellen Abkommen noch ausgeschlossen.
„Wir haben uns in dieses Abkommen gestürzt, ohne eine Strategie zu haben“, klagt ein Brüsseler Entscheider. Hinzu kommt: Seit dem vergangenen Wochenende, als Teile des Militärs putschten, sind bereits mehr Flüchtlinge aus der Türkei über Bulgarien nach Serbien gelangt. „Es sind nur zweistellige Zahlen pro Tag, aber das genügt für einen Rückstau in Serbien“, heißt es.
Ein bisschen Hoffnung
Mitte Juli hatte Erdoğan mit dem Versprechen überrascht, 2,7 Millionen syrischen Flüchtlingen im Land die türkische Staatsbürgerschaft zu erteilen. Doch hinter der vermeintlichen Menschenfreundlichkeit verbirgt sich vermutlich politisches Kalkül. Die vielen neuen Wahlberechtigten, so rechnet Erdoğan vermutlich, würden aus Dankbarkeit wohl seine AKP wählen.
Doch bei allen Negativmeldungen gilt es, eins nicht zu vergessen: Die Türkei ist in politischer Hinsicht auch ein Land der Strohfeuer – sie brennen schnell und verlieren ebenso schnell an Kraft. Daran klammern sich zumindest Optimisten. „Wir hatten bloß einen schlechten Traum“, sagt Mehmet Şimşek, der als liberal geltende stellvertretende Premierminister. „Es gibt keinen Grund zur Panik.“ Viel wird davon abhängen, ob die Säuberungen rasch ein Ende haben und Erdoğan das Land nach seiner Machtfestigung nicht noch weiter spaltet. Ob der Präsident dazu aber die Größe hat?
Immerhin: Vom Flughafen Atatürk in Istanbul fliegen die Maschinen wieder im normalen Takt. Auch die amerikanische Flugbehörde FAA lässt Turkish Airlines wieder in den USA landen. Vielleicht erreicht Fluglinienchef Temel Kotil doch noch sein großes Ziel: bis 2023, dem 100. Geburtstag der Türkei, den Umsatz von Turkish Airlines auf 24 Milliarden US-Dollar zu verdoppeln. Präsident Erdoğan möchte, dass sein Land dann zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt gehört. Um beides zu erreichen, brauchen beide Männer das Vertrauen der Welt. Und sie brauchen Wachstum. Sonst droht eine sehr harte Landung.