Erdoğans Zorn Der türkischen Wirtschaft droht der Absturz

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Zweifel am EU-Flüchtlingsabkommen

In Brüssel betrachtet man diese Entwicklung voller Sorge. „Erdoğan arbeitet jetzt erst recht auf ein Ein-Mann-System hin“, heißt es dort. Visafreiheit für türkische Bürger, als Teil des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei für Oktober geplant, „ist nach ganz hinten in den Kühlraum gerutscht“, sagt ein hoher EU-Beamter. Niemand rechnet mehr damit, dass die Türkei wie gewünscht ihre Antiterrorgesetzgebung verändert.

Und führt Erdoğan die Todesstrafe wieder ein, sind die – ohnehin längst zur Farce gewordenen – Verhandlungen über einen EU-Beitritt endgültig Makulatur.

Brüssel verfügt über Druckmittel: Von den drei Milliarden Euro, die der Türkei im Rahmen des Flüchtlingsdeals versprochen wurden, sind erst 750 Millionen Euro ausgezahlt. Weitere 1,25 Milliarden sind verplant. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die nun schnell fließen werden“, sagt ein Entscheider. Allerdings befindet sich Brüssel in einer Zwickmühle. Das Geld soll schließlich an Flüchtlinge fließen, etwa damit syrische Kinder wieder Unterricht erhalten.

"Dieses Jahr ist die reinste Katastrophe"
Vor der Wassersportanlage an der türkischen Riviera dümpeln zwei Jetski und Motorboote im türkisblauen Wasser. Die Leere hat sich manch ein Tourist vielleicht schon mal gewünscht, der sich bei 32 Grad mitten in der Hochsaison ein Plätzchen auf der Liege neben Hunderten anderen sichern musste. Verlassene Strände sind in diesem Jahr traurige Wirklichkeit in der Türkei. Das Land kommt nicht zur Ruhe: Auf Terroranschläge folgte ein Putschversuch – und nun auch noch der Ausnahmezustand. Pralle Sonne, stahlblauer Himmel, funkelndes Meer und gewaltige Berge: Weder die perfekte Urlaubskulisse noch die günstigen Preise oder der gute Service in den Hotels am Mittelmeer können so viele Touristen nach Antalya locken wie in den vergangenen Jahren. Quelle: dpa
Mehmet Tekerek am türkischen Strand Quelle: dpa
Konyaalti Quelle: dpa
Nur wenige Menschen bevölkern den Strand Konyaalti in Antalya. Quelle: dpa
Die Konsequenz dieser Unsicherheit lässt sich an der Statistik ablesen. Laut dem türkischen Tourismus-Ministerium ist die Zahl der Besucher, die im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat ins Land kamen, um knapp 22,9 Prozent gesunken. Betrachtet man die Region Antalya, wo die Menschen hauptsächlich vom Tourismus leben, sind die Zahlen noch dramatischer. Quelle: dpa
Turkish-Airlines-Maschine im Anflug auf Antalya Quelle: REUTERS
Der weltgrößte Reisekonzern Tui schätzt derweil, dass er in diesem Jahr mit einer Million Urlaubern nur rund halb so viele Gäste in die Türkei bringt wie 2015. Die Buchungen liegen bis jetzt 40 Prozent niedriger als im Vorjahr, nur das Last-Minute-Geschäft birgt noch Hoffnung. Quelle: dpa

Es mehren sich aber ohnehin die Zweifel am EU-Flüchtlingsabkommen mit den Türken. Kann es gültig bleiben, wenn Erdoğan noch autoritärer und brutaler regiert? Was passiert, sollten sich die politischen Spannungen innerhalb des Landes verstärken? Flüchtlinge, die in der Türkei politisch verfolgt werden, sind nämlich vom aktuellen Abkommen noch ausgeschlossen.

„Wir haben uns in dieses Abkommen gestürzt, ohne eine Strategie zu haben“, klagt ein Brüsseler Entscheider. Hinzu kommt: Seit dem vergangenen Wochenende, als Teile des Militärs putschten, sind bereits mehr Flüchtlinge aus der Türkei über Bulgarien nach Serbien gelangt. „Es sind nur zweistellige Zahlen pro Tag, aber das genügt für einen Rückstau in Serbien“, heißt es.

Ein bisschen Hoffnung

Mitte Juli hatte Erdoğan mit dem Versprechen überrascht, 2,7 Millionen syrischen Flüchtlingen im Land die türkische Staatsbürgerschaft zu erteilen. Doch hinter der vermeintlichen Menschenfreundlichkeit verbirgt sich vermutlich politisches Kalkül. Die vielen neuen Wahlberechtigten, so rechnet Erdoğan vermutlich, würden aus Dankbarkeit wohl seine AKP wählen.

Schon vor dem Putschversuch war die Türkei keine Demokratie mehr, ist Politikwissenschaftler Roy Karadag überzeugt. Im Interview erklärt er, was Erdogan nun plant und wieso der EU-Flüchtlingsdeal auf der Kippe steht.
von Marc Etzold

Doch bei allen Negativmeldungen gilt es, eins nicht zu vergessen: Die Türkei ist in politischer Hinsicht auch ein Land der Strohfeuer – sie brennen schnell und verlieren ebenso schnell an Kraft. Daran klammern sich zumindest Optimisten. „Wir hatten bloß einen schlechten Traum“, sagt Mehmet Şimşek, der als liberal geltende stellvertretende Premierminister. „Es gibt keinen Grund zur Panik.“ Viel wird davon abhängen, ob die Säuberungen rasch ein Ende haben und Erdoğan das Land nach seiner Machtfestigung nicht noch weiter spaltet. Ob der Präsident dazu aber die Größe hat?

Immerhin: Vom Flughafen Atatürk in Istanbul fliegen die Maschinen wieder im normalen Takt. Auch die amerikanische Flugbehörde FAA lässt Turkish Airlines wieder in den USA landen. Vielleicht erreicht Fluglinienchef Temel Kotil doch noch sein großes Ziel: bis 2023, dem 100. Geburtstag der Türkei, den Umsatz von Turkish Airlines auf 24 Milliarden US-Dollar zu verdoppeln. Präsident Erdoğan möchte, dass sein Land dann zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt gehört. Um beides zu erreichen, brauchen beide Männer das Vertrauen der Welt. Und sie brauchen Wachstum. Sonst droht eine sehr harte Landung.

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