Erdogan und die EU „Ohne Türkei ist der Westen kaum handlungsfähig“

Die Türkei greift nach dem Putschversuch hart gegen vermeintliche Regierungskritiker durch. Der Westen droht mit Konsequenzen. Doch Präsident Recep Tayyip Erdogan sitzt aus Sicht von Experten am längeren Hebel.

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Wichtiger Partner für den Westen: der türkische Präsident Erdogan. Quelle: AFP

Berlin Nach dem Putschversuch hatte es in der Türkei zunächst eine Entlassungs- und Verhaftungswelle gegeben. Nach Angaben von Ministerpräsident Binali Yildirim vom Wochenende wurden bereits mehr als 13.000 Menschen in Gewahrsam genommen, darunter 8.831 Armeeangehörige, 1329 Polizisten und 2.100 Richter und Staatsanwälte. Jetzt geht die Führung des Landes gegen Medienvertreter vor.

Laut Medienberichten sind 42 Haftbefehle gegen Journalisten erlassen worden. Wie die Fernsehsender NTV und CNN-Türk berichten, ist unter anderem die bekannte Journalistin Ilicak betroffen. Sie war 2013 wegen kritischer Berichterstattung über einen Korruptionsskandal von der regierungsnahen Zeitung „Sabah“ entlassen worden.

Der Westen reagierte bislang mit wortgewaltigen Drohungen, sodass sogar ein endgültiger Bruch mit der Türkei nicht ausgeschlossen scheint. In Deutschland sprachen sich Unions-Politiker für ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen aus. Regierungssprecher Steffen Seibert stellte zudem klar, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe eine EU-Mitgliedschaft ausschließe.

Und US-Außenminister John Kerry warnte: „Es gibt ganz offensichtlich Anforderungen der Nato bei der Achtung der Demokratie.“ Mehrere Politiker sprachen davon, dass sich EU und Nato an einer „Wegscheide“ der Beziehungen mit der Türkei befänden. Der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt stellte gar die Türkei als Nato-Partner infrage.

Doch so groß die Sorgen auch sind, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan den Putschversuch zu einem radikalen Ausbau seiner Herrschaft durchsetzen könnte: Experten halten von solchen Drohkulissen reichlich wenig. Das liegt vor allem an den gemeinsamen Interessen der Türkei und des Westens.

„Wir benötigen die Türkei, weil ohne sie im Nahen und Mittleren Osten die westliche Staatengemeinschaft kaum handlungsfähig ist. Deswegen sollten wir den Nato-Austritt der Türkei nicht  herbei reden, am allerwenigsten sollten deutsche Politiker damit drohen“, sagte der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, dem Handelsblatt.

Er vermute, das Land werde bald diesen Schritt von alleine gehen. Wichtig sei daher, sich zu überlegen, „wie man mit dieser neuen Türkei vernünftig und behutsam umgeht“, fügte Krause hinzu. „Die Dinge im Nahen Osten entwickeln sich mit einer Dynamik, die deutsche Politik zu überfordern scheint.“


„Bedeutende Rolle in der Nato gegenüber Risiken und Bedrohungen“

Auch Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, warnte davor, die Türkei als wichtigen geostrategischen Partner zu verprellen. So sehr man die Äußerungen aus der Union zur Nato-Mitgliedschaft der Türkei  „emotional nachvollziehen kann, so sehr sollte sich die Nato von Realismus und strategischen Interessen in ihrer Politik gegenüber der Türkei leiten lassen“, sagte Masala. „Und das bedeutet gegenwärtig mit ihr weiter eng zusammen zu arbeiten.“

Man dürfe auch nicht vergessen, so der Politik-Professor, dass der Türkei aufgrund ihrer geopolitischen Lage eine „bedeutende Rolle in der Nato-Politik gegenüber den Risiken und Bedrohungen aus dem südlichen Krisenbogen der Allianz zukommt“. „Ohne die Türkei wäre es noch schwieriger diesen Bedrohungen zu begegnen. Gegen die Türkei wäre es nahezu unmöglich“, warnte Masala, der auch Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Na to Defence College ist.

Der Kieler Sicherheitspolitik-Experte Krause ist überdies der Überzeugung, dass Drohungen mit dem Ende der EU Beitrittsverhandlungen oder dem Ausschluss aus der Nato ohnehin „nichts bewegen werden“. „Die Türkei habe unter Erdogan und der AKP innen- wie außenpolitisch einen ganz eigenen Weg eingeschlagen und wir werden die Richtung kaum beeinflussen können, in die sich das Land bewegt“, sagte er.

Bei genauem Hinsehen erweisen sich denn auch die Drohungen des Westens als leer oder wenig realistisch. „Die Türkei, egal in welche Richtung sie sich entwickeln wird, kann nicht aus der Nato ausgeschlossen werden, da der Nordatlantische Vertrag von 1949 einen Ausschluss eines Mitgliedes nicht vorsieht“, sagte Außenpolitik-Experte Masala. „Um die Türkei aus der Nato auszuschließen, bedürfte es einer Änderung dieses Vertrages, die von allen Mitgliedsstaaten mitgetragen werden und auch von allen Parlamenten der mittlerweile 29 Allianzpartner ratifiziert werden müsste. Dass dies geschieht, ist absolut illusorisch.“

So blieb beispielsweise Griechenland Nato-Mitglied, als von 1967 bis 1974 eine Militärjunta im Land reagierte. Und auch die früheren, erfolgreichen Militärputsche in der Türkei hatten keine Folgen für die Bündnismitgliedschaft des Landes.


Türkei verfügt über die zweitstärkste Nato-Armee nach den USA

Dass die Nato-Mitglieder die Entwicklungen in der Türkei zum Anlass nehmen, um ein Ausschlussverfahren zu entwickeln, gilt auch schon deshalb als höchst unwahrscheinlich, weil die Türkei über die zweitstärkste Nato-Armee nach den USA verfügt. Zudem gilt sie als äußert wichtiger Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

Der türkische Nato-Stützpunkt Incirlik ist einer der wichtigsten für Luftangriffe auf die IS-Stellungen in Syrien und dem Irak. Neben mehr als tausend Soldaten der US-Luftstreitkräfte sind dort auch rund 240 Bundeswehrsoldaten stationiert, die sich mit Aufklärungstornados und einem Tankflugzeug an den Anti-IS-Einsätzen beteiligen. Immer wieder gibt es zudem Gerüchte, dass die USA in Incirlik Atomsprengköpfe stationiert haben. Als wahrscheinlich gilt deswegen, dass die Nato-Partner bis auf weiteres mit Mahnungen versuchen werden, die Türkei wieder auf Kurs zu bringen.

Auch das von der CSU immer wieder ins Feld geführte Szenario, die Türkei könnte irgendwann der EU beitreten, erweist sich aktuell als stumpfes Schwert. Zumal die Warnung, dass Ankara die rechtsstaatlichen Kriterien für einen EU-Beitritt nicht erfüllt, schon seit Jahren vorgebracht wird. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat schon beim Amtsantritt als Kanzlerin 2005 verkündigt, dass sie eine türkische EU-Mitgliedschaft ablehne.

Es wird nur weiterverhandelt, weil die EU den Beitrittsprozess in den letzten Tagen der damaligen rot-grünen Regierung eröffnet und Merkel den Status Quo akzeptiert hatte. Daran ändert auch die Öffnung weiterer Verhandlungskapitel nichts. Abgeschlossen wurde bisher kein einziges Thema. „Deshalb ist die CSU-Warnung vor dem Beitritt nicht wirklich realistisch, weil das ohnehin nicht auf der Tagesordnung steht“, heißt es in Regierungskreisen. Ein weiterer Grund: EU-Diplomaten bezweifeln seit Monaten, dass Erdogan jemals bereit wäre, den für einen Beitritt nötigen Souveränitätsverzicht hinzunehmen.

Also könnte man einen Schlussstrich unter die Beitrittsgespräche ziehen - was aber nach Ansicht von EU-Diplomaten auch Erdogan nicht will. Denn es würde die innenpolitischen Spannungen zwischen moderaten, Europa zugewandten Kräften und seiner islamischen AKP-Partei erhöhen. Deshalb registrierte man auch in Berlin aufmerksam, dass die türkische Seite am Dienstag nach den klaren EU-Warnungen vor der Wiedereinführung der Todesstrafe verhaltener klang als noch am Montag. Der türkische Ministerpräsident Yildirim versprach, man werde sich nicht an den Putschisten rächen, sondern sich bei der Strafverfolgung an die Gesetze halten.


„Die Außenpolitik Erdogans bleibt partiell kalkulierbar“

Auch am Flüchtlingsabkommen werden EU und die Türkei wohl festhalten. In der Bundesregierung wurde schon am Wochenende der Vermutung widersprochen, dass die Nach-Putsch-Phase Einfluss auf die Zusammenarbeit haben könnte. Denn das Abkommen sei auch im türkischen Interesse. Die Türkei brauche das Geld für die Versorgung der Flüchtlinge. „Und zwei Milliarden der zugesagten drei Milliarden Euro sollen bis Ende September für Projekte in der Türkei ausgezahlt werden“, sagte auch Marc Pierini vom Carnegie-Forschungsinstitut.

Daneben lockt immer noch die Visafreiheit für Türken bei Reisen in die EU, die Erdogan nicht leichtfertig aufgeben dürfte. Allerdings dürfte sich die Visa-Liberalisierung wegen seines innenpolitischen Kurses weiter verzögern, weil das Europäische Parlament zuvor zustimmen müsste – dies aber bei zu scharfen Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei kaum tun dürfte.

Ob die Türkei in dieser Hinsicht ihren Kurs korrigiert, ist eher unwahrscheinlich. Die Türkei habe sich endgültig vom Kemalismus (Gründungsideologie der türkischen Republik mit Trennung zwischen Staat und Religion; Anm. d. Red.) und der Demokratie verabschiedet und entwickle sich zu einem neuen Sultanat, „in dem Politik hauptsächlich betrieben wird, um diejenigen reich zu machen, die an den Schalthebeln der Politik sitzen“, sagte der Politik-Professor Krause. Nichts anderes stecke hinter den Säuberungen im Staatsapparat.

Aus seiner Sicht werde eine Mischung aus Islamismus und Nationalismus zur vorherrschenden Ideologie. „Und je schlechter die wirtschaftliche und innenpolitische Lage wird - und das wird kommen -, umso verbissener werden von der AKP Kräfte des Auslands dafür verantwortlich gemacht“, schätzt Krause. „Die Außenpolitik Erdogans bleibt partiell kalkulierbar, aber sie wird zunehmend durch erratische Momente gekennzeichnet sein.“

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