Erdoganismus in der Türkei Erdoğan sticht Allah

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Die Lösung heißt nicht "Islam"

Erdoğan selbst ist ein Machtpolitiker, der geschickt darin ist, die Frömmigkeit seiner Wähler zu nutzen. "Aller demonstrativen Frömmigkeit und aller konservativen-moralischen Forderungen zum Trotz ist Erdoğan kein Islamist", schreibt die Journalisten Çiğdem Akyol in ihrem 2016 erschienen Buch "Erdoğan: Eine Biografie". "In Erdoğans Türkei heißt die Lösung nicht "Islam", sondern "Erdoğan". Er sorgt für Wohlstand, Wachstum und Sicherheit, Erdoğan geht die Konflikte der gesamten Region an."

Zwar spricht Erdoğan immer wieder von konservativen Rollenmodellen, schreibt Akyol, die rechtliche Gleichstellung der Frau aber wurde und wird aber sogar vorangetrieben.

Und schließlich haben islamistische Positionen unter den Türken traditionell wenig Rückhalt.

Es gibt Islamisten in der Türkei, und viele von ihnen finden in der AKP ihre politische Heimat. Nur machen sie laut einer Umfrage des PEW-Centers in Washington aus dem Jahr 2013 maximal zwölf Prozent der Bevölkerung aus. (In Ägypten liegt dieser Prozentsatz bei 74, in Pakistan bei 84 Prozent). Ihr politisches Gewicht ist gering.  Die AKP ist eine Dachpartei, unter der sich viele konservative und auch wirtschaftsliberale Strömungen unter der Person Erdoğan sammeln. Die Einführung der Scharia ist der großen Mehrheit ein Gräuel.

Das kann trotzdem bedeuten, dass die Religion in der Türkei in den nächsten Jahren eine noch wichtigere Rolle einnehmen wird. Nur ist sie für den türkischen Präsidenten Mittel zur Macht und nicht Selbstzweck. Der Islam nützt ihm, um breite, fromme und konservative Wählerschichten zu mobilisieren, und so seine Macht auszubauen.

Sein pragmatisches Verhältnis zum Islam zeigt sich auch in seiner Außenpolitik: Zwar suchte Erdoğan die Nähe zu der Muslimbruderschaft in Kairo, brach die Beziehungen zu Israel ab, nachdem ein türkisches Schiff versucht hatte, die Blockade von Gaza zu treffen, und lieferte wohl auch Waffen an den IS. Mittlerweile aber kämpfen türkische Truppen in Syrien und im Nordirak gegen den Islamischen Staat. Die Beziehungen zu Israel wurden wie die zur Russland im Juni dieses Jahres mit einer diplomatischen Volte normalisiert. Das ist eine zwar eine erratische Außenpolitik voller Missgeschicke, der Fanatismus eines Gottesstaats aber sieht anders aus.

Fakten zum Streit um die Nähe der Türkei zu Islamisten

Zu vergleichen ist das am ehesten mit Erdoğans neuem, alten Männerfreund Wladimir Putin. Auch der setzt seit Jahren auf eine Revitalisierung der Orthodoxie und bindet konservative Wähler mit markanten Sprüchen.

Auch mit Donald Trump dürfte sich Erdoğan zunächst gut verstehen. Die Hoffnungen, dass dieser einer Auslieferung Fetullah Gülens zustimmt, sind zumindest höher, als sie das bei Hillary Clinton gewesen wären.

Erdoğan passt so gesehen gut in die autoritär-konservative Welle, die gerade die ganze Welt zu erfassen scheint: Trump in den USA, Putin in Russland, Modi in Indien. Sie alle setzen auf einen Mix aus Nationalismus, Religiosität, Staatskapitalismus, Zensur und konservativen Werten. Solche Charaktere verstehen sich gut - bis sie sich streiten.

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