Erdogans Referendum Tag der Entscheidung in der Türkei

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„Erhebliche Behinderungen“ für Gegner der Reform


Im Wahlkampf dominierte ein Wort: „Evet“, Ja – also die Zustimmung zu der geplanten Verfassungsänderung. Erdogan persönlich absolvierte Kundgebungen in rund 40 der 81 Provinzen, obwohl ihn die Verfassung eigentlich zur Neutralität verpflichtet. In den überwiegend regierungstreuen Medien kam die Nein-Kampagne, die vor allem von Nichtregierungsorganisationen und der größten Oppositionspartei CHP getragen wurde, nur am Rande zu Wort. Der Wahlkampf wurde von Experten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beobachtet. Die Organisation sprach von „erheblichen Behinderungen“ für die Gegner der Verfassungsänderung, beispielsweise durch die Einschränkung der Versammlungsfreiheit unter dem Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch vom Juli 2016 gilt. Erdogan reagierte ungehalten auf die Kritik: Die OSZE überschreite damit ihr Mandat. „Kennt Eure Grenzen“, kanzelte Erdogan bei einer Kundgebung im zentralanatolischen Konya die Beobachter ab.

Die 35 OSZE-Gesandten beobachten auch die Abstimmung an diesem Sonntag. Die Stimmzettel sind zweigeteilt: In der linken Hälfte steht auf weißen Grund das Wort „Evet“, in der rechten Hälfte auf braunem Grund das Wirt „Hayir“, Nein. Die Wähler markieren mittels eines Stempels mit der Aufschrift „tercih“ (Auswahl) das Feld ihrer Wahl. In den Wahllokalen dürfen Vertreter aller Parlamentsparteien die Abstimmung und die Stimmenauszählung beobachten. Die Wahllokale schließen in den Ostprovinzen um 15.00 Uhr MESZ, in den westlichen Regionen eine Stunde später.

Wahlberechtigt waren auch rund 2,7 Millionen Auslandstürken, darunter 1,4 Millionen in Deutschland. Die im Ausland lebenden Wähler konnten vorab in 57 Ländern ihre Stimme abgeben. Davon machten nach offiziellen Angaben 1,33 Millionen Gebrauch. Die Stimmzettel wurden bereits in der vergangenen Woche in versiegelten Säcken nach Ankara geflogen. Dort werden sie nach der Schließung der Wahllokale ausgezählt. Die Stimmen der Auslandstürken könnten besondere Bedeutung haben. Denn unter ihnen hat Erdogan überdurchschnittlich viele Anhänger, wie frühere Wahlen zeigten.

Wählerbefragungen und Hochrechnungen wird es am Wahlabend nicht geben. Wann Auszählungsergebnisse veröffentlicht werden dürfen, entscheidet der Oberste Wahlrat. Mit ersten Resultaten wird am Sonntagabend gerechnet. Die Umfragen lassen keine gesicherte Prognose zum Ausgang der Abstimmung zu. In den meisten seit Anfang April erhobenen Umfragen liegen die Befürworter der Verfassungsänderung zwar leicht vorn. Der Vorsprung zum Nein-Lager bewegt sich aber oft innerhalb der Fehlertoleranz. Erdogan selbst sagte am Freitag: „Einige Prognosen zeigen unter 55 Prozent Ja-Stimmen, andere zwischen 55 und 60 Prozent.“

Billigen die Wähler die Verfassungsreform, werden die neuen Regelungen schrittweise umgesetzt. Die Veränderungen in der Justiz sollen unmittelbar in Kraft treten. Auch das bisherige Verfassungsgebot zur parteipolitischen Neutralität des Präsidenten wird sofort aufgehoben. Einer der ersten Schritte nach einem Ja-Votum dürfte sein, dass Erdogan wieder Mitglied der von ihm mitbegründeten Regierungspartei AKP wird und sich auf einem Sonderparteitag zum Vorsitzenden wählen lässt. Die ersten gemeinsamen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unter dem neuen System sollen planmäßig im November 2019 stattfinden. Danach bekäme Erdogan seine volle Machtfülle, vorausgesetzt er gewinnt die Wahl. Erdogan könnte den Urnengang jedoch vorziehen – nicht zuletzt angesichts einer sich kontinuierlich verschlechternden Wirtschaftslage.

Stimmen die Wähler mehrheitlich mit Nein, sind die Entwicklungen kaum kalkulierbar. Für Erdogan, der bisher ein Dutzend Wahlkämpfe bestritten und alle gewonnen hat, wäre es die schlimmste Niederlage seiner politischen Karriere. Wie fanatisierte Erdogan-Anhänger auf einen solchen Ausgang der Abstimmung reagieren würden, ist völlig offen. An den Istanbuler Finanzmärkten wären heftige Turbulenzen zu erwarten. Die Lira käme unter Druck, die ohnehin auf einem 16-Jahres-Hoch angelangte Inflation würde angefeuert. Die Zentralbank müsste wohl mit Zinserhöhungen gegensteuern. Das würde die ohnehin schwächelnde Konjunktur weiter bremsen.

Erdogan erklärte zwar am Samstag: „Ich verstehe diejenigen, die Nein sagen, weil das Demokratie ist.“ Dass er ein mehrheitliches Nein einfach hinnimmt und sich in die Grenzen der bisherigen Verfassung zurückzieht, ist aber nicht zu erwarten. Der Erdogan-Berater Mehmet Ucum kündigte bereits an, wenn die Verfassungsänderung am Sonntag keine Mehrheit finde, werde man die Vorlage überarbeiten und erneut zur Abstimmung stellen. Eine Rückkehr zum bisherigen System werde es jedenfalls nicht geben, sagte Ucum der Nachrichtenagentur Bloomberg.

Beobachter erwarten, dass Erdogan im Fall einer Niederlage Neuwahlen zum Parlament herbeiführen wird. Sein Kalkül könnte sein, dass die Kurdenpartei HDP, deren Führung mittlerweile hinter Gittern sitzt, und die ultranationalistische MHP, die in der Frage der Verfassungsreform tief gespalten ist, nicht mehr den Sprung ins nächste Parlament schaffen. Erdogans AKP könnte dann auf eine Zweidrittelmehrheit hoffen und so das Präsidialsystem in der Nationalversammlung durchsetzen – gegen das Volk.

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