Estland Digitale Heimat gestresster Unternehmen

Was macht eigentlich Estland? Es bietet Unternehmen, die sich nicht mit Brexit, Bürokratie oder Steuern herumärgern wollen, eine neue digitale Heimat. Und ist damit ziemlich erfolgreich.

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Der Zwerg im kleinen Norden macht sich mit seiner Idee einzigartig Quelle: dpa

Tallin Gemessen an seiner Wirtschaftskraft und seiner Einwohnerzahl ist Estland ein Zwerg: 1,3 Millionen Bürgern erwirtschafteten 2016 ein Bruttoinlandsprodukt von rund 20 Milliarden Euro - noch nicht einmal ein Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung. Nur Zypern und Malta sind in der EU noch kleiner als Estland. Doch nun will der Kleinstaat im hohen Norden ganz groß herauskommen. Das Internet macht's möglich. „Damit können wir größer werden als wir eigentlich sind“, sagt Siim Sikkut. Der IT-Chefbeauftragte der estnischen Regierung hat es geschafft, in den vergangenen zwei Jahren über  20.000 neue Einwohner aus 138 Ländern in seine Heimat zu locken. Zwar lebt keiner von ihnen in dem Land, in dem es im Winter monatelang kaum hell wird und die Temperaturen locker unter 20 Grad sinken können. Manche haben sogar noch nie in ihrem Leben einen Fuß auf estnischen Boden gesetzt. Und doch sind sie alle in der baltischen Republik registriert - als sogenannte E-Residents.

Estland ist der erste Staat weltweit, der Ausländern einen digitalen Wohnort anbietet. Anträge nehmen weltweit alle diplomatischen Vertretungen des Landes gerne entgegen. Interessenten müssen 100 Euro zahlen und rund einen Monat warten. Dann werden sie digitale Bürger Estlands - und damit auch der EU. Das wollen immer mehr Menschen - und zwar vor allem aus geschäftlichen Gründen. Estlands digitale Einwanderer haben binnen zwei Jahren schon 1600 neue Firmen gegründet, Tendenz steigend. „Unser Ziel ist es, bis 2025 zehn Millionen E-Residents nach Estland zu holen“, sagt Sikkut.

Das könnte durchaus zu schaffen zu sein. Weltweit entdecken immer mehr Geschäftsleute die Vorteile eines virtuellen Wohnsitzes im äußersten Nordosten der EU. Für Ukrainer und Türken ist er ein kostengünstiges Einfallstor zum europäischen Binnenmarkt. Das haben auch die Briten inzwischen entdeckt. Seit der Brexit-Entscheidung in London verzeichnet Estland steigende Antragszahlen aus dem Vereinigten Königreich. In anderen EU-Staaten stößt das estnische Angebot ebenfalls auf Interesse - vor allem bei Start-ups, die Bürokratiekosten vermeiden wollen. „Ein belgischer Freiberufler hat sich bei uns gemeldet, weil er zu Hause mehr als 16.000 Euro für die Gründung einer Firma aufbringen und obendrein ein Büro nachweisen muss“, berichtet Sikkut. Solche Kosten bleiben dem Belgier in Estland erspart - und nicht nur die. Er braucht auch keinen Steuerberater.

Solange die Gewinne in der Firma verbleiben, beträgt die Körperschaftssteuer Null. Entnommene Gewinne besteuert Estland mit 20 Prozent - im Vergleich zu anderen EU-Staaten immer noch günstig. Die Steuererklärung kann der E-Unternehmer mit ein paar Mausklicks selber machen und seine digitale Signatur darunter setzen. Schriftverkehr auf Papier mit dem Finanzamt gibt es in Estland schon lange nicht mehr. Selbstverständlich kann der ausländische E-Unternehmer auch problemlos online ein Bankkonto eröffnen und Zahlungssysteme wie Paypal nutzen.

Kein anderer EU-Staat hat die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung so weit vorangetrieben wie Estland. Der Rest Europas wird darauf mittlerweile aufmerksam - zumal das vor einem knappen Jahrhundert gegründete Land am 1. Juli erstmals in seiner Geschichte die halbjährlich rotierende EU-Präsidentschaft übernommen hat. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble haben die baltische Republik bereits als vorbildlich gelobt. Deutschland könne davon einiges lernen.

Das finden die Esten selbst auch. „Wir sind stolz und bieten den anderen EU-Staaten unsere Expertise an“, sagt die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid. Bereits vor 20 Jahren hat das Land damit begonnen, seine staatliche Verwaltung zu digitalisieren. Mittlerweile bekommt der Este fast alles online: Die Wohnsitzanmeldung, das Autokennzeichen, Ausweise und Steuerbescheide, die Unternehmensgründung, Rezepte sowie Arzt- und Krankenhaustermine.

Und selbstverständlich geben die meisten Bürger bei Wahlen auch online ihre Stimme ab. „Persönlich erscheinen und  unterschreiben muss man nur noch bei Eheschließungen, Scheidungen und Immobiliengeschäften“, meint Estlands IT-Chefberater Sikkut. Die Digitalisierung erspare den Bürgern viel Zeit und Ärger und dem Staat viel Geld. Der Effizienzgewinne durch die digitale Signatur beläuft sich nach Regierungsangaben auf zwei Prozent vom jährlichen Bruttoinlandsprodukt.

Doch es gibt auch Risiken. Der estnische Staat hat sehr viel Wissen über seine Bevölkerung auf wenigen Servern akkumuliert. Bedenken von Datenschützern dagegen lässt die Regierung in Tallin nicht gelten. In Estland scheint kaum jemand zu befürchten, dass der Staat seine Erkenntnisse einmal gegen missliebige Bürger verwenden könnte. Angst vor Cyberangriffen aus dem Ausland haben die Esten aber schon. „Je aktiver man die Potenziale der Digitalisierung nutzt,  desto mehr wird man zur Zielscheibe“, räumt Verteidigungsminister Jüri Luik ein. Die Gefahr müsse man in Kauf nehmen, denn die Digitalisierung sei unvermeidlich.

Gleichwohl trifft die Regierung in Tallin Vorsichtsmaßnahmen - auch ungewöhnlicher Art. So beschloss sie, ein Kopie ihrer gesamten Bürgerdatenbank im Ausland zu lagern, um im Falle von Cyberangriffen darauf zurückgreifen zu können. Die Wahl fiel auf Luxemburg. Vor zwei Wochen schlossen die Premierminister beider Länder einen Vertrag über die Speicherung der estnischen Daten im Großherzogtum ab - weltweit der erste dieser Art.

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