EU-Türkei-Abkommen Welche Probleme der Flüchtlings-Deal bringt

Der EU-Türkei-Deal soll das Flüchtlingsaufkommen in Europa reduzieren und den Schleusern ihr Geschäft zerstören. Doch es gibt bereits massive Probleme. Das Flüchtlingsabkommen wird für die EU-Staaten Konsequenzen haben.

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Trotz Abkommen strömen die Flüchtlinge nach Griechenland. Die Hellenen stehen nun vor der Aufgabe, alle ankommenden Flüchtlinge zu registrieren, ihren Asylanspruch zu prüfen – und ihre Rückkehr in die Türkei zu organisieren. Quelle: AFP

Düsseldorf Sie hoffen auf ein sicheres Leben in Europa. Doch weiter als Griechenland kommen sie nicht mehr. Und selbst dort sollen sie nicht sein. Seit Sonntag soll die Türkei Flüchtlinge zurücknehmen, die aus dem Land illegal nach Griechenland gelangt sind. Diesen Deal hat die EU mit der Türkei ausgehandelt: die Türkei und die griechischen Inseln als Bollwerk gegen den Flüchtlingszustrom nach Europa.

Doch trotz des Abkommens kommen weiterhin Zehntausende Flüchtlinge in das türkische Nachbarland, wo seit der Schließung der Balkanroute bereits 50.000 festsitzen. Besonders im Grenzlager Idomeni herrschen katastrophale Zustände. Am Mittwoch demonstrierten Hunderte Flüchtlinge von der mazedonischen Grenze bis zu den Ägäis-Inseln nahe der Türkei für die Öffnung der Grenzen.

Sie forderten, ihre Reise nach Mitteleuropa fortzusetzen. Doch genau das soll der EU-Pakt mit der Türkei verhindern. Das Abkommen sieht vor, dass nahezu alle Menschen, die von der Türkei nach Griechenland flüchten, künftig zurückgeschickt werden – am 4. April soll mit den Rückführungen begonnen werden. Doch anderthalb Woche vorher hakt es in vielen Bereichen:

Griechenland ist überfordert

Die Hellenen stehen vor der Aufgabe, alle ankommenden Flüchtlinge zu registrieren, ihren Asylanspruch zu prüfen – und ihre Rückkehr in die Türkei zu organisieren. Für die rund 200 Mitarbeiter der griechischen Asylbehörde ist das nicht zu bewältigen. Sie können nur etwa 20 Asylanträge pro Tag bearbeiten. Deswegen sollen die übrigen Mitgliedsstaaten zusätzliches Personal nach Griechenland schicken.

Regierungschef Alexis Tsipras forderte 2300 Experten, die allein aus der EU kommen müssten, um den griechischen Behörden zu helfen. Die EU schätzt die Gesamtzahl der benötigten Experten auf fast 6000 und die Kosten auf bis zu 300 Millionen Euro. Deutschland plant laut Bundesinnenministerium 200 Polizisten und 100 Asylexperten nach Griechenland zu schicken. Die Frage nach anfallenden Kosten ist laut einem Sprecher des Innenministeriums noch kaum zu beantworten. „Die Personalkosten fallen sowieso an“, sagte er. Und die Unterbringungskosten vor Ort müssten von der EU getragen werden. Ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums gab zudem an, dass es keinerlei zusätzliche finanzielle Hilfen für Griechenland in dieser Sache gebe.

Verteilung der Flüchtlinge ist noch offen

Für jeden Syrer, der von der Türkei aus Griechenland zurückgenommen wird, hat sich die EU bereiterklärt, einen syrischen Bürgerkriegsflüchtling aus der Türkei legal aufzunehmen. Bis zu 72.000 sind das insgesamt. Unklar ist, wie diese auf die EU-Staaten verteilt werden. CSU-Chef Horst Seehofer polterte bereits: „Es besteht die Gefahr, dass Deutschland wieder die Hauptlast bei der Aufnahme der Flüchtlinge trägt.“

Im September 2015 hatten die EU-Innenminister die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen nach einem bestimmten Schlüssel beschlossen. Der Verteilungsschlüssel gewichtete zu 40 Prozent die Bevölkerungszahl des jeweiligen Landes, zu 40 Prozent das BIP, zu 10 Prozent die durchschnittliche Anzahl der bisherigen Asylanträge und zu zehn Prozent die Arbeitslosenquote. Demnach sollte Deutschland mit 26,3 Prozent (42.080 Flüchtlinge) die Hauptlast tragen, gefolgt von Frankreich, das 20 Prozent (32.000 Flüchtlinge). Das geringste Kontingent war für den Inselstaat Malta vorgesehen: 0,1 Prozent – 160 Flüchtlinge. Griechenland, Italien und Ungarn wurden von den Quoten befreit. Dänemark, Großbritannien und Irland beteiligten sich nicht an der EU-Asylpolitik.

Doch auch dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand vieler EU-Mitglieder: Im Februar waren erst 481 von 160.000 Flüchtlingen verteilt.

Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab

Den Flüchtlingen ist nicht klar, dass sie zurückgeschickt werden. In der Türkei verfügen sie nur über zwei Informationsquellen: Was die Schleuser ihnen erzählen und die Erfahrungen, die Verwandte und Freunde gemacht haben, die es bereits in die EU geschafft haben. Beide Quellen ermuntern sie, in Richtung Griechenland aufzubrechen. „Schell rüber“, lautet die Aufforderung der Schlepper, wie Migranten berichten. Und auch die Verwandten raten: „Fahr lieber schnell rüber, und wir werden sehen, wie es weiter geht.“ Denn die Verwandten sind mit dem nun anstehenden Auswahlverfahren in der Türkei zur legalen Einreise in die EU nicht vertraut.

Deswegen müssten die Menschen aufgeklärt werden, bevor sie nach Griechenland kommen, sagt ein Offizier der griechischen Küstenwache, damit sie sich gar nicht erst auf den gefährlichen Weg über das offene Meer machen. Auf Lesbos werden Flüchtlinge, die erst jetzt – nach Inkrafttreten des Paktes – auf die Insel gelangt sind, systematisch von anderen Flüchtlingen getrennt. Aus den Auffanglagern Moria auf Lesbos werden Internierungslager, kritisieren Hilfsorganisatoren. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sowie die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ stellten daher aus Protest ihre Arbeit in den Lagern ein. Dort sollen Migranten bis festgehalten werden, bis die Rückführungen am 4. April starten. „Wir werden nicht zulassen, dass unsere Hilfe für eine Massenabschiebung instrumentalisiert wird“, erklärte Marie Elisabeth Ingres, Landeskoordinatorin von „Ärzte ohne Grenzen“, den Entschluss.

„Wir weigern uns, Teil eines Systems zu sein, das keine Rücksicht auf die humanitären Bedürfnisse oder die Schutzbedürfnisse von Asylsuchenden und Migranten nimmt.“ Auch das UNHCR ließ über einen Sprecher verlauten, es beteilige sich nicht an „Haftzentren“.


Libyen als neuer Kontenpunkt für Überfahrten

Revival anderer Flüchtlingsrouten

Der EU-Türkei-Deal zielt auch darauf ab, den Schleusern ihr Geschäftsmodell zu zerstören. Doch diese werden sich neue Routen suchen, Flüchtlingen ihren Weg in die EU zu ebnen – und gewaltig daran zu verdienen. Eine Möglichkeit für die Schlepper: Von der Türkei aus über die bulgarische Landesgrenze EU-Herrschaftsgebiet zu betreten. Doch Bulgarien will dieses Szenario verhindern.

Das bulgarische Parlament hatte bereits im Februar beschlossen, die Seegrenzen im Schwarzen Meer militärisch zu überwachen, um einen starken Flüchtlingszulauf zu verhindern. Vor dem EU-Türkei-Gipfel hatte das Nicht-Schengen-Land gefordert, dass der Schutz von Bulgariens Grenzen in das geplante Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei einbezogen werde. Erfolgreich: Das am Freitag verabschiedete EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei weist ausdrücklich auf den Schutz der bulgarischen Grenzen hin. Auch Routen, die über Georgien und Russland bis nach Norwegen oder Finnland führen, könnten neuen Zulauf erhalten.

Doch besonders die Routen von Ägypten oder Libyen stehen mit dem Deal wieder im Fokus. Nach der faktischen Schließung der Balkanroute könnte insbesondere der Westen Libyens zu einem noch öfter genutzten Knotenpunkt für Überfahrten nach Europa werden.

Mit Konsequenzen für Italien: Die Mittelmeerinsel Lampedusa würde vor einem erneuten Flüchtlingsandrang stehen – und die Flüchtlinge erneut in Schlauchbooten über das offene Meer treiben. Alleine am Samstag retteten spanische, italienische und deutsche Marineschiffe knapp 800 Bootsflüchtlinge in Seenot. In den vergangenen Jahren starben Tausende auf ihrem Weg über das Meer.

Auch die Route von Marokko nach Spanien ist eine Option. Zwar hat das marokkanische Königreich die Grenze entlang der Mittelmeerküste bereits vor zehn Jahren abgeriegelt, doch trotzdem schaffen es immer wieder einzelne Flüchtlinge über den Grenzzaun zu kommen und dann in Schmugglerbooten nach Spanien zu gelangen.

Die Flüchtlingsrouten werden sich verlagern, doch der EU-Türkei-Deal gilt nur für Flüchtlinge, die illegal von  auf griechischem Boden stranden. Alle anderen EU-Staaten sind damit auf sich allein gestellt. Eine europäische Lösung für das Flüchtlingsproblem ist noch lange nicht in Sicht.

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