Tausende Festnahmen, kreisende Kampfjets und gepanzerte Fahrzeuge an strategisch wichtigen Punkten: Nach dem missglückten Militärputsch am Freitag herrscht in der Türkei noch immer der Ausnahmezustand. Die Regierung in Ankara will eine „Säuberungsaktion“ durchführen, noch immer suchen Polizisten nach weiteren Verschwörern. Laut türkischer Regierung wurden 9000 Menschen festgenommen, unter ihnen Dutzende Generäle, Richter und Staatsanwälte. Insgesamt 8777 Staatsbedienstete seien ihrer Posten enthoben worden, darunter 30 Gouverneure und 52 Inspekteure, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu am Montag unter Berufung auf das türkische Innenministerium. Auch eine Wiedereinführung der Todesstrafe wird diskutiert.
Die Einführung der Todesstrafe in der Türkei wäre nach Ansicht der Bundesregierung das Aus für die türkischen EU-Beitrittsgespräche. „Deutschland und die EU haben eine klare Haltung: Wir lehnen die Todesstrafe kategorisch ab“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. „Die Einführung der Todesstrafe in der Türkei würde folglich das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen bedeuten.“
Ähnliche Töne kamen von anderen westlichen Politikern. Man habe sofort nach dem Putschversuch die Erwartung geäußert, dass die Aufarbeitung nach internationalem Recht erfolge, sagte der für die EU-Beitrittskandidaten zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn am Montag in Brüssel vor einem Treffen der EU-Außenminister. „Nach dem, was wir sehen, ist das nicht wirklich der Fall.“
Hahn zeigte sich speziell über die Festnahme von Richtern beunruhigt. „Das ist genau das, was wir befürchtet haben“, sagte er. Zudem äußerte er die Vermutung, dass die türkische Regierung ein Vorgehen gegen Gegner bereits länger geplant hatte. „Dass Listen direkt nach den Vorkommnissen vorhanden waren, deutet darauf hin, dass sie vorbereitet waren und zu einem bestimmtem Moment genutzt werden sollten.“
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, Elmar Brok, warnte die Türkei mit deutlichen Worten: „Wenn Präsident Erdogan die Situation nutzt, um weitere Verfassungsrechte einzuschränken, dann werden die Beitrittsverhandlungen schwierig bis unmöglich.“
Am Dienstag werde der Ausschuss zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Das Flüchtlingsabkommen dürfe mit Ankaras innenpolitischen Wirren „nichts zu tun haben“, mahnte Brok. Nach dem missglückten Putsch geht Erdogans Regierung nun mit aller Härte gegen mutmaßliche Verschwörer vor. „Wir haben bereits 6000 Menschen festgenommen“, sagte Justizminister Bekir Bozdag am Sonntag.
„Unrecht darf nicht mit Unrecht bekämpft werden“, mahnte der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum, die Türkei und stellte klar: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein undemokratischer Staat Mitglied der EU wird.“
„In der Türkei wird es noch schlechter und autoritärer werden“, fürchtet der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rainer Arnold. Der internationale Druck auf Erdogan durch die USA und Nato werde daher steigen.
"Nichts wird mehr sein wie früher"
Ähnliche Befürchtungen äußerte Manfred Weber, Europapolitiker der CSU. Die Beziehungen zur Türkei seien an einem Wendepunkt angelangt, so der Fraktionschef der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament am Montag im Deutschlandfunk. „Gerade die Grundsatzfrage, ob die Türkei ein Mitglied der Europäischen Union werden kann, wird in den nächsten Wochen grundsätzlich auch zu beantworten sein“, sagte er. Mit den jüngsten Entwicklungen sei eine solche Mitgliedschaft in weite Ferne gerückt.
Dass in den Beitrittsverhandlungen momentan irgendwelche Fortschritte erzielt werden könnten, „das scheint mir ziemlich irreal zu sein“, ergänzte Weber. Der richtige Weg sei, mit der Türkei wie mit anderen Nachbaren punktuell zusammenzuarbeiten und Abkommen zu schließen, etwas in der Flüchtlingsfrage. Man müsse dabei aber von einigen Vorstellungen Abschied nehmen. „Und dazu zählt für mich, dass die Türkei Vollmitglied der Europäischen Union werden kann“. Weber. Eine Zusammenarbeit brauche Ehrlichkeit, damit Vertrauen wieder wachsen könne.
Weber forderte von der EU und der Türkei Besonnenheit im Umgang mit der aktuellen Situation. „Wir sollten keine Schnellschüsse an den Tag legen, im Sinne von Drohungen aussprechen“, sagte er mit Blick auf die EU. Die Türkei sollte die Lage nicht weiter eskalieren. Das Land müsse auf alle Fälle mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen die Beteiligten an dem jüngsten Putsch-Versuch vorgehen.
Zweifel daran wecken die jüngsten Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim, der vor Demonstranten in der Nacht zum Montag versprach, dass „nach dem 15. Juli nichts mehr wie früher“ sein werde. „Lasst uns diesen Feiertag auskosten“, rief Yildirim vor der Menschenmenge auf dem zentralen Kizilay-Platz.
Zudem deutete Yildirim erneut an, dass die Todesstrafe in der Türkei wiedereingeführt werden könnte. Lautstarke Forderungen der Menge nach der Todesstrafe beantwortete er mit: „Wir haben eure Botschaft erhalten.“ Die Putschisten würden „in strengster Weise zur Rechenschaft gezogen“.
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte die Türkei vor einem solchen Schritt: Emotionen und starke Worte seien der falsche Weg, so Asselborn. Die Türkei sollte selbstkritisch in sich gehen und sich fragen, wie es möglich sei, dass es überhaupt zu einem solchen Putsch-Versuch gekommen sei.
Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erklärte: Jeder türkische Parlamentsabgeordnete müsse wissen, „dass die politische Instrumentalisierung der Justiz wie die Einführung der Todesstrafe das Ende der Beitrittsperspektive des Landes zur Europäischen Union bedeutet“. Die eigentliche Tragödie des gescheiterten Putsches in der Türkei bestehe darin, „dass die gewaltsame Ersetzung einer gewählten Regierung durch ein Militärregime durch die bemerkenswerte Zivilcourage von vielen tausend Menschen verhindert wurde und die Beseitigung von Demokratie und Rechtsstaat nun vom gewählten Staatspräsidenten selbst betrieben zu werden scheint“.
Das ist die Gülen-Bewegung
Der heute 75-jährige Prediger Fethullah Gülen hat sich ursprünglich als einflussreicher islamischer Prediger einen Namen gemacht. Bis in die Achtzigerjahre hinein wirkte er als Iman in verschiedenen türkischen Städten. Mit seinen Predigten und Büchern über den Islam, über Bildungs- und Wissenschaftsfragen soziale Gerechtigkeit und interreligiösen Dialog begeisterte Gülen viele Gläubige. Seit 1999 lebt der gesundheitlich angeschlagene Prediger im US-Staat Pennsylvania. Er war nach einer Anklage wegen staatsgefährdender Umtriebe emigriert.
Gülen steht hinter der Bewegung Hizmet („Dienst“). Hizmet sieht einen ihrer Schwerpunkte in der Verbesserung von Bildungschancen.
Für die meisten innenpolitischen Krisen macht Präsident Recep Tayyip Erdogan seit längerem die mächtige Bewegung Gülens mitverantwortlich. Erdogan wirft seinem einstigen Verbündeten vor, einen Staat im Staate errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. Die Regierung geht massiv gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor, die sie vor allem bei der Polizei und in der Justiz vermutet. Die Gülen-Bewegung wurde zur Terrrororganisation erklärt, viele ihrer führende Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Türkei.
Die EU zeigte sich ebenfalls beunruhigt über die Lage im Land. Das Vorgehen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan gegen ihre Gegner mache ihn sehr besorgt, sagte der EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn am Montag in Brüssel. Offenbar seien Listen für Verhaftungen bereits vorbereitet gewesen. „Dass die Listen schon nach dem Ereignis verfügbar waren, weist darauf hin, dass es vorbereitet war.“
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Grundsätze müssten eingehalten werden – auch „zum Wohle des Landes selbst“. Dazu werde es beim Treffen der EU-Außenminister am Montag in Brüssel eine „starke Botschaft“ geben. Es gebe „keine Entschuldigung“ für Schritte, die das Land von rechtsstaatlichen Grundsätzen entfernten.