Euro-Gipfel Der Tag der gebrochenen Versprechen

Der Schuldenschnitt kommt, genauso wie der Rettungsfonds mit Superhebel: Die Staats- und Regierungschefs treffen sich, um alle Versprechen zu brechen, die sie Wählern, Investoren und Bankern gegeben haben.

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Quelle: handelsblatt.com

Der Gipfel hat noch nicht begonnen, aber das Abschlusskommuniqué ist schon vorbereitet. Denn wichtiger noch als die Rettung der europäischen Gemeinschaftswährung ist den Staats- und Regierungschefs die Rettung ihres eigenen Ansehens.

Also haben die 17 Führer der Euro-Staaten schon vorab ihre noch zu leistenden Heldentaten gerühmt. „Die heutige Verabredung repräsentiert einen weiteren großen Fortschritt. Der Euro ruht weiterhin auf einem soliden Fundament“, heißt es im Entwurf des Kommuniqués.

In Wahrheit ist die Basis des Euros durch mindestens ein halbes Dutzend gebrochener Versprechen längst ausgehöhlt. So erklärte EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn: „Die Regierung in Athen hält bei der Haushaltssanierung Kurs.“ Tatsächlich versinkt Griechenland in ökonomischer und politischer Depression. Das treibt die Wirtschaft immer weiter nach unten und die Staatsschulden immer weiter nach oben. Unter diesen Bedingungen kann die Haushaltssanierung des Landes nicht vorankommen.

Bevor Christine Lagarde Chefin des Internationalen Währungsfonds wurde, versicherte die damalige französische Finanzministerin privaten Investoren: „Eine Umschuldung griechischer Verbindlichkeiten ist absolut ausgeschlossen.“ Heute verhandeln die Politiker in Brüssel darüber, dass die Banken auf bis zu 60 Prozent des Werts ihrer Griechenland-Bonds verzichten müssen. Die Folgen für das europäische Finanzsystem sind schwer kalkulierbar. Eine Kettenreaktion, die bei den griechischen Banken beginnen würde, könnte sich über Portugal und Spanien bis nach Italien und Frankreich fortsetzen.

Vor allem aber dürfte das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit der Staaten heute erneut Schaden nehmen. Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den Bürgern versprochen hatte, „das Primat der Politik hat bei der Sicherung der Stabilität des Euros für uns absoluten Vorrang“. Dieses Versprechen wird heute ad absurdum geführt – ausgerechnet im Deutschen Bundestag.

Dort stimmen die Parlamentarier darüber ab, dass mit einem „Hebel“ die finanzielle Schlagkraft des Euro-Rettungsfonds EFSF über die bisher zur Verfügung stehenden 440 Milliarden Euro erhöht werden soll. Nach der Abstimmung jedoch, so steht es im gemeinsamen Entschließungsantrag von Koalition, SPD und Grünen, sollen die Hebel-Modelle „im weiteren Verfahren mit den Beteiligten besprochen und dann konkretisiert werden“. Das aber bedeutet, dass die Akteure auf den Finanzmärkten der Politik die Konditionen diktieren, was andererseits wieder nicht verwunderlich ist. Die Politik will die Probleme einmal mehr mit einem Kreditvolumen in Billionenhöhe lösen. „Die Parlamentarier unterschreiben für die Verhandlungen mit den privaten Investoren einen Blankoscheck“, klagt FDP-Finanzexperte Frank Schäffler.  

Der Geschäftsführer der angesehenen Alfred Herrhausen Gesellschaft, Wolfgang Nowak, fasste die Paradoxien dieser Rettungspolitik jüngst in einem Vortrag so zusammen: „Plötzlich taucht ein ,Hebel’ auf, der an den nationalen Parlamenten vorbei dem europäischen Stabilitätsfonds Beweglichkeit verschaffen soll. Auf viele wirkt dieser Hebel wie ein riesiges finanzielles Selbstmordprogramm.“

Ohne Hebel fehlt dem Rettungsfonds Schlagkraft

Tatsache ist, dass der Bundestag heute über eine „Hebelung“ des Euro-Rettungsfonds EFSF entscheidet – die Politik aber erst danach in die Verhandlungen mit den Finanzmärkten über die Art des Hebels einsteigt. Dass die 440 Milliarden Euro Garantievolumen des EFSF nicht ausreichen werden, hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) schon zu erkennen gegeben, als Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) noch jede Ausweitung des Fonds vehement ablehnte. Denn der EFSF, aus dem bereits die Rettungsprogramme für Irland und Portugal finanziert werden, soll künftig nicht nur notleidenden Staaten helfen, Banken zu rekapitalisieren, sondern auch an den Märkten Anleihen Italiens und Spaniens kaufen, um deren Kurse zu stützen.

Von einer „Hebelwirkung“ des Fonds hatte Schäuble am 24. September während einer Pressekonferenz bei der Herbsttagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington gesprochen. US-Finanzminister Timothy Geithner hatte die Europäer damals aufgefordert, die Schlagkraft des EFSF durch ein „leveraging“ zu erhöhen. Seither spricht Schäuble aber nicht mehr von Kredithebeln, sondern davon, die EFSF-Mittel „effizient“  einzusetzen. „Wir müssen mit dem Sprit so weit wie möglich fahren können“, formulierte sein Sprecher.

An der maximalen Haftungssumme des deutschen Steuerzahlers von 211 Milliarden Euro für den EFSF jedenfalls werden die Regierungschefs auch heute auf dem EU-Gipfel in Brüssel nicht rütteln. Wohl aber werden sie beschließen, Hebel in zwei Varianten auszuverhandeln. Ausschließlich zu solchen Verhandlungen soll heute Mittag der Bundestag Kanzlerin Angela Merkel (CDU) das Mandat erteilen, das geht aus dem Entwurf des Entschließungsantrags hervor.

Hebel eins besteht in einer Teilabsicherung neuer Anleihen von Staaten wie Italien und Spanien, die unter den Druck der Finanzmärkte geraten sind: Für einen Teil der Anleihen würde der EFSF Garantien vergeben. Diskutiert wurde vergangenes Wochenende in Brüssel über Garantien für 20 Prozent der Anleihen, die bei einem Zahlungsausfall sofort an den Investor ausbezahlt würden. Die Wirkung der EFSF-Mittel wird so von 440 Milliarden auf 2,2 Billionen Euro verfünffacht.

Hebel zwei besteht in der Gründung von Zweckgesellschaften, die EFSF und Privatinvestoren gemeinsam für ein Hilfsempfängerland gründen. Die Gesellschaften könnten dessen Anleihen kaufen oder bei der Bankenkapitalisierung helfen. Wie viel Geld der EFSF so mobilisieren könnte, hängt davon ab, ob sich chinesische, indische oder arabische Staatsfonds, Pensionsfonds oder Versicherungen und Banken für derartige Investments interessieren.

In den nächsten Wochen soll EFSF-Chef Klaus Regling an den Finanzmärkten abfragen, wer sich an den neuen Hebel-Produkten beteiligen würde. „Im Grunde beschließen wir im Bundestag einen Prüfauftrag an Regling“, sagte Unions-Haushälter Norbert Barthle (CDU). Die Hebel sollen in die Leitlinien für den EFSF eingearbeitet werden. Diese müssten in zwei bis drei Wochen erneut durch den Bundestag. Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) erwartet, dass dann der Haushaltsausschuss beschließt.

Die EZB macht Fiskalpolitik– und wird damit abhängig

Spätestens seit dem Mai 2010 zeigt sich in der Praxis, dass es mit der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht mehr weit her ist. Damals ließen sich die Notenbanker von der Politik überzeugen, in großem Stil Staatsanleihen europäischer Krisenländer aufzukaufen. Zwar gelang es so, die Renditen der Schuldenstaaten kurzfristig zu senken. Doch die EZB begab sich auf abschüssiges Terrain, weil sie damit indirekt Staatsdefizite finanziert.

Trotzdem haben die Verhandler im Entwurf des Abschlusskommuniqués für den morgigen Euro-Gipfel signalisiert, dass die EZB trotz der Aufstockung des Euro-Rettungsfonds EFSF das umstrittene Anleihen-Ankaufprogramm fortsetzen soll.

Zwar betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern, dieser Satz sei mit Deutschland nicht abgestimmt. Die Politik wolle auf keinen Fall den Eindruck erwecken, etwas von der EZB zu erwarten. Doch dass die Passage überhaupt Eingang in den Entwurf des Gipfeldokuments gefunden hat, zeigt, welch untergeordnete Bedeutung eine unabhängige Zentralbank für Europas Politiker heute noch hat. Auch die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Frankreichs Ex-Finanzministerin Christine Lagarde, soll nach Angaben hochrangiger EU-Diplomaten darauf dringen, dass die EZB das umstrittene Ankaufprogramm fortsetzt.

Dabei hat die Unabhängigkeit der EZB sogar Verfassungsrang, während die der Bundesbank von der Regierung nur durch einfaches Gesetz gewährt war. Nur mit dem Versprechen maximaler Unabhängigkeit der Notenbank von der Politik wurde den skeptischen Deutschen damals die Aufgabe der D-Mark erleichtert.

Inzwischen hat die Europäische Zentralbank für knapp 170 Milliarden Euro Staatsanleihen gekauft. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet stellte die Unabhängigkeit seiner Institution selbst infrage, als er einen Brief mit Forderungen an die italienische Regierung schrieb, die diese erfüllen sollte, damit die EZB weiter italienische Staatsanleihen kauft.

Trichet sagte später zwar, er habe nicht mit Premier Silvio Berlusconi verhandelt, er habe nur klargestellt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen. Doch die Unabhängigkeit der EZB verträgt sich nicht gut damit, dass sie gewählten Regierungen sagt, wie sie ihre Finanzpolitik zu gestalten haben.

Die Finanzierung von Staatsdefiziten ist der EZB ausdrücklich verboten. Sie darf den Regierungen keinen Kredit geben und darf ihnen nicht direkt Staatsanleihen abnehmen. Doch „ob die EZB direkt Staatsanleihen kauft oder indirekt, kommt in der Sache auf dasselbe heraus“, stellt Jacques Cailloux, Europa-Chefvolkswirt der Royal Bank of Scotland, fest. Wenn die Banken wissen, dass sie ihre Staatsanleihen an die EZB loswerden können, dann ist das so, wie wenn die EZB sie den Regierungen direkt abnähme, nur dass Geschäftsbanken daran mitverdienten. Zuletzt hat die EZB aber zu beweisen versucht, dass sie noch die Freiheit der Entscheidung hat. Denn obwohl die Schwierigkeiten Italiens nicht kleiner geworden sind, hat sie den Ankauf von Staatsanleihen etwa im Vergleich zum August kräftig zurückgefahren.

Griechenland ist ohne Umschuldung nicht zu retten

Bei Christine Lagarde war der Wunsch der Vater des Versprechens: Als französische Finanzministerin wollte sie seinerzeit den Schuldenschnitt unbedingt verhindern, um ihren Banken Verluste zu ersparen. Damit stand die mittlerweile zur Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) beförderte Lagarde im Mai keineswegs allein. Die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank (EZB) und der IWF behaupteten unisono, dass Griechenland seine schwere Schuldenlast trotz der sich häufenden Hiobsbotschaften aus Athen mittelfristig schultern könne.

Die kollektive Realitätsverweigerung nahm am vergangenen Wochenende ein abruptes Ende: Die sogenannte Troika, bestehend aus Vertretern der EZB, der EU-Kommission und des IWF, legte ihren neuen Bericht zur finanziellen Lage Griechenlands vor – ein Katastrophenszenario. Die Kernbotschaft: Ohne großen Schuldenschnitt hat Hellas keine Überlebenschance mehr. „Das war ein heilsamer Schock“, berichtete ein Teilnehmer des Euro-Gipfels am vergangenen Sonntag.

Auf zehn Seiten listeten die Troika-Experten auf, was in Athen alles schiefläuft. Das Land müsse mit einer „längeren und schwereren Rezession“ rechnen als bisher erwartet. Die Privatisierung von Staatsfirmen gehe langsamer voran als geplant. Das griechische Haushaltsdefizit werde auch nach 2020 noch das EU-Limit von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) überschreiten. Und der Gesamtschuldenstand liege dann immer noch bei 150 Prozent des BIP. Das ist eindeutig zu viel, um das Vertrauen der privaten Anleger zurückzugewinnen.

Deshalb könne Griechenland sich nicht wie bisher geplant ab 2021 wieder selbstständig an den Finanzmärkten refinanzieren. Bis dahin werde die ungedeckte Finanzlücke im griechischen Etat stetig wachsen. Wahrscheinlich auf 252 Milliarden Euro, schlimmstenfalls sogar bis auf 440 Milliarden Euro.

Die Euro-Regierungschefs müssen heute entscheiden, wer dieses Loch stopft. Das am 21. Juli beschlossene zweite Hilfspaket für Griechenland reicht dafür bei weitem nicht aus, denn es umfasste nur 159 Milliarden Euro. Davon wollten die Euro-Staaten 109 Milliarden Euro bereitstellen. Die restlichen 50 Milliarden sollten von den privaten Gläubigern kommen. Doch dieser Plan ist inzwischen Makulatur. Denn Griechenland benötigt zusätzlich noch einmal mindestens 100 Milliarden Euro.

Diesen Brocken wollen die Euro-Staaten ihren Steuerzahlern nicht mehr aufbürden. Deshalb bleiben jetzt nur noch die Banken: Im Sommer hatten sie bereits auf 21 Prozent ihrer Forderungen verzichtet. Nun sollen sie 60 Prozent ihrer griechischen Staatsanleihen abschreiben. Die Euro-Zone hofft immer noch, dass die Banken sich darauf freiwillig einlassen. „Schließlich wissen sie, dass die Alternative noch schlechter für sie wäre“, heißt es in Brüssel.

Denn das lange Undenkbare ist in greifbare Nähe gerückt: Der staatlich angeordnete Schuldenschnitt. Die Bundeskanzlerin schließt ihn nicht mehr explizit aus und beantwortet Fragen danach ausweichend: Sie könne darüber jetzt „nicht irgendwelche Spekulationen anstellen“, sagte Angela Merkel am Sonntag in Brüssel.

Die Mär von der Sanierung des griechischen Haushalts

Tatsache ist: Die griechische Regierung beschließt Sparprogramm um Sparprogramm, bekommt die Staatsfinanzen aber nicht in den Griff. Nach den Plänen, die der Internationale Währungsfonds und die Euro-Staaten (IWF) im Frühjahr 2010 beschlossen haben, sollte der Haushalt ursprünglich schon nächstes Jahr so weit saniert sein, dass Griechenland sich wieder selbst an den Märkten mit Geld versorgen kann.

Viele Experten geißelten das Vorhaben bereits damals als Wunschdenken. Sie sollten recht behalten: Im vergangenen Juli versprachen die Geldgeber erneut mehr als 100 Milliarden Euro an Hilfen, weil den Griechen das Geld auszugehen drohte. Neuen Berechnungen zufolge reicht auch das bei weitem nicht: Die Troika aus Euro-Zone, Europäischer Zentralbank und IWF erwartet, dass das Land bis 2020 rund 250 Milliarden Euro an Hilfen benötigen wird.

Dass die Sanierung der griechischen Finanzen derart grandios scheitert, hat mehrere Gründe. Das erste Problem: Premier Giorgos Papandreou hat in den vergangenen beiden Jahren gegen heftige Widerstände der Opposition und in der Bevölkerung zwar zahlreiche Kürzungen und Steuererhöhungen durchgesetzt, damit aber die Konjunktur abgewürgt. Die griechische Wirtschaft wird in diesem Jahr voraussichtlich um 5,5 Prozent schrumpfen, ähnlich stark wie schon 2010. Dadurch bleiben die erhofften Steuermehreinnahmen aus, steigende Armut und Arbeitslosigkeit treiben die Ausgaben der Sozialkassen hoch.

Die Experten der Troika warfen Papandreou aber auch vor, nicht alle Sparbeschlüsse wie vereinbart umzusetzen. Weil wichtige Strukturreformen nicht schnell genug vorangetrieben wurden, reiste die Delegation der Geber Anfang September aus Protest vorzeitig ab. Der Premier reagierte auf den Druck und ließ sein Kabinett wenige Wochen später ihr bislang härtestes Sparprogramm beschließen. Dabei wagt sich die Regierung sogar erstmals an einen massiven Stellenabbau im üppig besetzten Verwaltungsapparat heran – beinahe jeder vierte Arbeitnehmer des Landes wird vom Staat bezahlt. Da die Parteien zahlreiche ihrer Mitglieder mit Stellen in den Ämtern versorgt hatten, trauten sie sich an echte Kürzungen lange nicht heran.

Hohe Milliardeneinnahmen hatten sich die internationalen Retter zudem davon versprochen, dass Athen große Teile seiner zahlreichen Staatsbeteiligungen verkauft, etwa an dem Telekomunternehmen OTE. Dadurch sollte der Fiskus bis 2020 gut 66 Milliarden Euro einnehmen. Der Ausverkauf kommt aber kaum voran, auch weil die erzielbaren Preise infolge der Krise im Keller sind. Den neuesten Zahlen der Troika zufolge wird das Land nun 20 Milliarden Euro weniger aus den Notverkäufen erzielen.

Die Konsequenz all dieser Rückschläge ist, dass Papandreou das Haushaltsdefizit nicht wie versprochen reduzieren kann: Statt des anvisierten Minus von 7,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) wird der Fehlbetrag in diesem Jahr voraussichtlich rund 8,5 Prozent betragen. Und Besserung ist kaum in Sicht.

Zwangsmaßnahmen sind kein Tabu mehr

Wunsch und Wirklichkeit liegen bei der Frage, wie die Banken an einem Schuldenschnitt für Griechenland beteiligt werden, weit auseinander. „Eine freiwillige Lösung wäre der Königsweg“, hieß es in diplomatischen Kreisen in Brüssel, „aber notfalls ginge es auch anders.“

Während die Bundesregierung einen erzwungenen Schuldenschnitt im Juli noch ablehnte, ist sie jetzt entschlossen, diesen notfalls durchzusetzen. Diese Position teilt auch Frankreich. Zwar sagte Präsident Nicolas Sarkozy noch am Sonntag: „Wir müssen eine freiwillige Lösung finden.“ Doch falls das nicht gelingt, würde auch Paris Zwang riskieren. „Der französische Präsident hat sich in dieser Frage sehr stark bewegt“, hieß es in Brüssel.

Seit Samstag verhandelt die Euro-Zone mit dem Weltbankenverband IIF. An den Gesprächen sind auch Vorstände europäischer Großbanken beteiligt. Auf der Seite der Euro-Zone führt Italiens Finanzstaatssekretär Vittorio Grilli die Verhandlungen, aus Deutschland ist sein Kollege Jörg Asmussen dabei.

Die Regierungschefs verlangen einen Forderungsverzicht von bis zu 60 Prozent. Das Ausmaß des diskutierten Schuldenschnitts deutet nach Einschätzung von Barclays darauf hin, dass mittlerweile auch die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Einwände gegen eine tiefgreifende Restrukturierung aufgegeben hat. Doch die Banken zeigen sich bislang hartleibig. In Finanzkreisen hieß es, der IIF habe noch Montagabend die Vorstellungen der Politik abgelehnt. Der Widerstand dürfte, wie schon im Juli, nicht zuletzt von französischen Banken ausgehen, die sehr hohe Anleihebestände halten. In Deutschland haben sich dagegen die meisten Finanzinstitute längst auf Verluste von 50 Prozent eingestellt, ist in der Branche zu hören.

Die Euro-Zone hatte lange mit einem tiefen Schuldenschnitt unter Zwang gezögert. Dahinter steckt die Angst, eine zweite Finanzkrise auszulösen. Zum einen befürchten Politiker wie auch Banken die mögliche Signalwirkung. „Eine Zwangsumschuldung wäre ein viel drastischeres Signal als eine freiwillige Lösung“, hieß es bei einer großen Bank. Damit würden die Ansteckungsrisiken für andere Euro-Länder noch höher.

Außerdem würden bei einer unfreiwilligen Umschuldung Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps, kurz CDS) für griechische Staatsanleihen fällig. Nicht auszuschließen ist, dass selbst ein „freiwilliger“, aber tiefer Schuldenschnitt dazu schon reicht. Banken, die viele CDS-Versicherungen verkauft haben, würden dann Verluste erleiden.

Offiziell liegt deren Volumen netto bei weltweit rund 2,7 Milliarden Euro, wie Daten des gemeinnützigen Kreditderivate-Registers DTCC zeigen. „Da CDS-Kontrakte nur bilateral abgeschlossen werden, will sich aber niemand voll auf diese Daten verlassen“, so ein Banker. Hinzu kommt, dass Banken ihre CDS-Bestände nicht transparent bilanzieren müssen. „Niemand weiß genau, welche Banken wie viele CDS halten“, sagte ein Diplomat. Um den Gefahren zu begegnen, zwingt die Euro-Zone die Banken parallel zu einer Anhebung ihrer Kernkapitalquote auf neun Prozent – nach Abzug der Kursverluste von Staatsanleihen.

Die leere Floskel vom Primat der Politik

Vom vielbeschworenen Primat der Politik in der Euro-Rettung kann schon lange keine Rede mehr sein. Wenn der Bundestag heute das Mandat für die Verhandlungen darüber, wie die Schlagkraft des Euro-Rettungsfonds EFSF erhöht werden kann, an die Euro-Gruppe oder den EFSF selbst abgibt, haben die privaten Investoren wieder das Heft in der Hand. Banken, Risikokapitalinvestoren oder Staatsfonds anderer Länder werden versuchen, der Politik die für sie günstigste Lösung abzuringen. Zwar muss der Haushaltsausschuss des Bundestags das Verhandlungsergebnis mit den privaten Investoren in ein paar Wochen wieder absegnen. Doch Abgeordnete wie Frank Schäffler (FDP) bezweifeln, dass „der Bundestag dann die Kraft aufbringen wird, dies abzulehnen“.

Die heutige Abstimmung im Bundestag ist kein Einzelfall. Seit die griechische Regierung im Oktober 2009 das wahre Ausmaß ihrer Schulden bekanntgab, hat das Krisenmanagement der EU-Spitzenpolitiker mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy an der Spitze seinen Namen nicht verdient.

Zwar versprach Merkel am 7. Mai 2010: „Darüber hinaus werden wir heute in Brüssel allerdings auch eine grundsätzliche Diskussion führen, die sehr deutlich machen muss, dass das Primat der Politik bei der Sicherung der Stabilität des Euros für uns absoluten Vorrang hat.“ Das Versprechen war aber schon gebrochen, bevor es geleistet wurde. Denn bereits am 2. Mai 2010 hatten die Euro-Finanzminister auf Druck der Märkte das erste Griechenland-Hilfspaket geschnürt. Nur ein paar Tage später mussten die Finanzminister einen 750 Milliarden Euro schweren Rettungsfonds beschließen. Bei der sich im November anschließenden Rettung Irlands war der Primat der Politik ebenfalls nur eine leere Floskel.  Wochenlang beteuerten die Politiker, das Land brauche keine Hilfe. Zum Schluss betrug das Volumen des Hilfspakets für Irland 85 Milliarden Euro.

Die jetzt zur Debatte stehenden Hebel-Modelle zur Erhöhung der Schlagkraft des EFSF „sollen im weiteren Verfahren mit den Beteiligten besprochen und dann konkretisiert werden“, heißt es im dem Handelsblatt vorliegenden gemeinsamen Entschließungsantrag der Koalition zusammen mit SPD und Grünen. Ein Blankoscheck für private Investoren, die nun versuchen werden, die Hebel-Modelle zu „optimieren“, wie es in dem Antrag heißt.

Doch der EFSF reicht ohnehin trotz aller Beteuerungen aus Berlin und Paris immer noch nicht aus, um die Märkte zu beruhigen. Obwohl die Berliner Koalition davon lange nichts wissen wollte, soll er 2013 von einem dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abgelöst werden.  Das Volumen beträgt 700 Milliarden Euro.

Wie das Primat der Politik wirklich einzuschätzen ist, zeigten Anfang Februar 2011 auch die Rücktritte von Bundesbank-Chef Axel Weber und im September von EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark. Beide lehnen strikt den Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) ab. Wie die Staats- und Regierungschefs auf dem heutigen Gipfel damit umgehen, ist noch nicht endgültig entschieden.

Der Dominoeffekt hat längst eingesetzt

Die Äußerung von EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark diente allein dazu, die Märkte zu beruhigen – fünf Tage nachdem die griechische Regierung nach langem Hin und Her ihren Antrag auf Hilfskredite gestellt hatte. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) schrieb in seinem im April veröffentlichten Finanzstabilitätsbericht, dass Griechenland zwar ein „Weckruf“, aber ein Einzelfall sei. Das Problem: Die Investoren an den Anleihemärkten glaubten schon damals nicht mehr an einen Einzelfall – und die Lage an den Märkten hat sich seither nochmals deutlich zugespitzt.

Als Stark und der IWF noch zu beschwichtigen versuchten, verlangten Investoren im Handel für zehnjährige griechische Staatsanleihen 6,8 Prozentpunkte mehr Rendite als für gleichlaufende Bundesanleihen. Für Portugal lagen diese Risikoprämien bei 2,7, für Irland bei 2,1 und für Spanien und Italien bei einem Prozentpunkt. Binnen drei Wochen schossen die Risikoprämien so hoch – unter anderem nach gewalttätigen Protesten in Griechenland, bei denen es drei Tote gab –, dass sich die EU-Finanzminister und der IWF auf ihr erstes Hilfspaket für die gesamte Euro-Zone mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro einigten. Erst später wurde aber klar, dass von dieser Summe nur ein Teil tatsächlich ausgeliehen werden kann.

Seither wurden viele weitere Versprechen gebrochen und die Investoren immer unsicherer. Die Regierungschefs von Portugal und Irland betonten lange Zeit, dass sie keine Hilfe brauchen, bevor sie im November 2010 und im April 2011 ebenfalls Hilfskredite beantragten. Der lange dementierte harte griechische Schuldenschnitt steht kurz bevor. Und der Euro-Rettungsschirm reicht auch nach der inzwischen in allen Ländern ratifizierten Aufstockung auf ein effektives Kreditvergabevolumen von 440 Milliarden Euro nicht aus, um im Zweifelsfall auch Spanien und Italien zu finanzieren.

Genau diese Unsicherheit führt dazu, dass inzwischen selbst Länder wie Frankreich nicht mehr das volle Vertrauen der Investoren genießen. Jetzt verlangen Investoren für zehnjährige französische Anleihen einen Prozentpunkt mehr Rendite als die gut zwei Prozent, die deutsche Bundesanleihen bieten. Bei Spanien und Italien liegen die Aufschläge bei 3,4 und 3,9, für Portugal bei 9,7 Punkten – alles mehr oder weniger nah an den jüngst erreichten Rekordhochs im Euro-Zeitalter.

Das einzige Beispiel, das Hoffnung macht, ist Irland. Die irische Wirtschaft wächst dank steigender Exporte wieder, und die Ausgaben sind laut Analysten unter Kontrolle. Die Folge: Am Markt haben sich die Risikoprämien für zehnjährige irische Staatsanleihen seit Mitte Juli auf 5,9 Prozentpunkte halbiert. Irlands Premier Enda Kenny hat deshalb bereits für das kommende Jahr die Rückkehr an die Kapitalmärkte angekündigt.

Griechenland dagegen, für dessen zehnjährige Anleihen Anleger Risikoprämien von 20 Prozentpunkten verlangen, wird nach Ansicht der EZB, des IWF und der EU frühestens in zehn Jahren wieder kapitalmarktfähig sein.

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