Europäische Werte Wie die Ukraine Europa neu beleben kann

Europafrust, Europamüdigkeit? Stimmt, die hat den Kontinent erfasst. Aber ein Blick in die Ukraine zeigt, welche Kraft europäische Werte entfalten können.

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Kiev Quelle: dpa

Vor Kurzem war der 75. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar, das allgemein als eines der größten einzelnen Massaker gilt, die während des Holocausts verübt wurden. Zwischen dem 29. und dem 30. September 1941 wurden in der Schlucht von Babyn Jar am Rande der ukrainischen Hauptstadt Kiew 33.771 jüdische Zivilisten von SS-Truppen unter Einsatz von Schusswaffen ermordet. Diejenigen, die den Kugelhagel überlebten, wurden zusammen mit den Leichen lebendig begraben.

Bis zu jenem Zeitpunkt war das Massaker von Babyn Jar der größte von Deutschland im Zweiten Weltkrieg zu verantwortende Massenmord, und es blieb der größte Massenmord der Nazis auf dem Gebiet der Sowjetunion – begangen mit Unterstützung von Ukrainern.

Das Verbrechen stellt nicht nur einen Tiefpunkt in der ukrainischen Geschichte dar, sondern zeigt auch die offene Brutalität und Grausamkeit, die das deutsche Regime und seine Kollaborateure in den jeweiligen Ländern oft an den Tag legten. Vielfach wird behauptet, dass der Holocaust eine moderne, technisierte Form des Mordens war, doch in Wahrheit starb eine sehr große Zahl der Holocaust-Opfer in ähnlicher Weise wie die Opfer von Babyn Jar.

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Überall auf der Welt, auch in Kiew, fanden Veranstaltungen zum Gedenken an das Massaker von Babyn Jar statt. Dieses Gedenken fällt jedoch in eine Zeit, in der die Europäische Union, die Organisation, die seit beinahe einem dreiviertel Jahrhundert für Frieden zwischen West- und Mitteleuropa sorgt, Gefahr läuft, einem rassistischen, nationalistischen und antiliberalen Populismus, der nicht vor Antisemitismus gefeit ist, anheim zu fallen.

Doch es gibt auch Länder, die sich diesem Trend entziehen: Eines davon ist die Ukraine, die – obwohl selbst nicht Mitglied der EU – nach den Werten strebt, auf denen die EU gegründet wurde. Der Geist dieses Transformationsprozesses kam mit dem Euromaidan – der Revolution der Würde – 2013 in die Welt und hat trotz existenzieller Bedrohungen auch im Inneren bis heute überlebt, was bemerkenswert ist.

Leuchtfeuer der Hoffnung

Die Ukraine, das Land, in dem sich das Massaker von Babyn Jar ereignete, hat mit Wolodymyr Hrojsman nun einen jüdischen Premierminister, was man als Beweis für den Fortschritt sehen kann. Noch beeindruckender ist jedoch, was der neue Premierminister seit seinem Amtsantritt bereits alles erreicht hat: eine erfolgreiche Umsetzung von Reformen im öffentlichen Dienst, eine bessere Regulierung des Energiesektors und die Planung einer weit reichenden Dezentralisierung.

Außerdem hat seine Regierung der Korruption im öffentlichen und privaten Sektor den Kampf angesagt und ist entschlossen, das Justizsystem zu reformieren und die Polizeikräfte landesweit zu stärken.

Der Geist hinter diesen Veränderungen entspricht sehr weitgehend dem Wertefundament der EU. Diese Werte wurden dem Bau einer besseren Europäischen Union zugrunde gelegt, um den Kriegen und dem jahrhundertelangen Blutvergießen in Europa ein Ende zu bereiten. Das ukrainische Volk unternimmt große Anstrengungen, um diesen Werten gerecht zu werden. Dies gereicht ihm zur Ehre.

Die Ukraine liegt an der Frontlinie, an der die Schlacht um den Erhalt der offenen Gesellschaften tobt, die zurzeit vor enormen Herausforderungen stehen. Am 75. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar, sollten wir über das Grauen dieser Ereignisse nachdenken, aber auch sehen, dass die Ukraine heute ein Leuchtfeuer der Hoffnung ist. Die Führer Europas haben den Widerstandsgeist der Ukraine und ihre Entschlossenheit, dem größeren europäischen Projekt zu dienen, nicht genug gewürdigt. Tatsächlich könnte die Ukraine der Schlüssel zur Wiederbelebung einer verschlissenen EU sein.

Auch jenseits der Grenzen Europas ist es die Pflicht aller demokratischen Nationen, die Ukraine in ihrem Bestreben, sich vom Joch des Autoritarismus und der Korruption zu befreien, zu unterstützen. Wenn wir dabei versagen, besteht die Gefahr, dass das Land in Zukunft von ähnlichen Grausamkeiten wie dem Massaker von Babyn Jar heimgesucht wird.

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