Europäischer Haftbefehl Ist Puigdemont Krimineller oder Held?

Der flüchtige katalanische Regierungschef treibt einen Keil in die belgische Regierung – und womöglich auch in die ganze EU. Dass Belgien ihn trotz eines europäischen Haftbefehls an Spanien ausliefert, ist nicht sicher.

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Carles Puigdemont in Brüssel: Kataloniens Held oder Krimineller? Quelle: Reuters

Brüssel Am Dienstagmittag tauchte er in einem völlig überfüllten Presseclub auf, am Mittwochmorgen zahlte er angeblich seine Rechnung in einem bescheidenen Hotel in der Nähe des Brüsseler Justizpalast und am Donnerstagnachmittag wurde er in einem Café im Europaviertel der belgischen Hauptstadt gesichtet: Carles Puigdemont ist zum meistgesuchten Mann Belgiens avanciert.

Scharen von Journalisten und Paparazzi fahnden nach ihm – und bald wahrscheinlich auch die belgischen Sicherheitsbehörden. Nachdem der angekündigte europäische Haftbefehl für den abgesetzten katalanischen Regierungschef in Brüssel eingetroffen ist, muss die belgische Polizei den 54-Jährigen wohl verhaften.

Doch wird die belgische Justiz den Katalanen dann auch nach Madrid ausliefern? Das ist die Frage des Tages in Brüssel; sie wird in allen belgischen Medien ausführlich diskutiert. Die Meinungen der Fachleute gehen auseinander. Manche Juristen weisen darauf hin, dass europäische Haftbefehle in aller Regel vollstreckt werden. Nur in extremen Ausnahmefällen könne die Auslieferung verweigert werden.

Spielraum für belgische Richter

Andere Experten erinnern daran, dass die Puigdemont vorgeworfenen Straftaten – Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung öffentlicher Gelder – nicht zu den 32 explizit im Gesetz genannten Gründen für einen europäischen Haftbefehl gehören. Das eröffnet den belgischen Richtern gewisse Interpretationsspielräume. Sie könnten die Auslieferung ablehnen, wenn für diese Tatbestände im belgischen Recht deutlich geringere Freiheitsstrafen vorgesehen sind als im spanischen Gesetzbuch.

Die belgische Justiz könnte auch zu dem Schluss kommen, dass Puigdemont in Spanien womöglich keinen fairen Prozess bekommen könnte und seine Grundrechte damit gefährdet wären. Dieses Argument wird Puigdemonts belgischer Anwalt Paul Bekaert aller Voraussicht nach ins Feld führen. Der Jurist gilt als Experte für Menschenrechtsfragen.

Bekaeert gelang es schon einmal, zwei mutmaßliche ETA-Terroristen vor der Auslieferung nach Spanien zu bewahren. Das war allerdings zu einer Zeit, als es noch keinen europäischen Haftbefehl gab, der die Auslieferung an andere EU-Staaten drastisch vereinfachte.


Was Flandern mit dem Puigdemont-Haftbefehl zu tun hat

Auf jeden Fall wird die belgische Prüfung des europäischen Haftbefehls für Puigdemont einige Zeit in Anspruch nehmen: Bis zur endgültigen Entscheidung der Justiz kann es bis zu 60 Tage, wenn der Separatist alle Berufungsmöglichkeiten ausschöpft. Das wird der Katalane mit Sicherheit tun, dafür spricht schon die Auswahl seines auf solche Verfahren spezialisierten Rechtsbeistandes. Paul Bekaert stellte bereits klar, dass Puigdemont bis auf weiteres in Belgien bleiben werde.

Wenn die Justiz am Ende dem spanischen Haftantrag folgt, ist seine Auslieferung immer noch nicht hundertprozentig garantiert. Juristisch wäre der Fall damit zwar abgeschlossen, doch politisch bleibt eine Frage offen: Wird der belgische Innenminister Jan Jambon als oberster Dienstherr der Polizei die Zwangsabschiebung des Katalanen nach Spanien veranlassen?

In Belgien gilt das nicht als sicher. Schließlich ist Jambon Mitglied der flämischen N-VA. Die nationalistische Partei strebt nach Unabhängigkeit für Flandern – und sympathisiert deshalb mit dem Katalanen. N-VA-Chef Bart de Wever bezeichnete Puigdemont explizit als „Freund“, den man „nicht fallen lassen“ dürfe.

Die Puigdemont-Saga könnte Belgien also noch länger beschäftigen – und Regierungschef Charles Michel in schwere Bedrängnis bringen. Michel steht in der EU massiv unter Druck. Kein einziger der 28 Regierungschefs hegt auch nur die geringste Sympathie für Puigdemont. Alle stehen fest auf der Seite des spanischen Premierministers Mariano Rajoy.

Sollte der belgische Innenminister einen von der Justiz bestätigten europäischen Haftbefehl nicht ausführen, könnte Michel das also auf keinen Fall dulden. Er müsste eine Abschiebung gegen den Willen seines Koalitionspartners N-VA erzwingen. Damit wäre das belgische Regierungsbündnis vermutlich am Ende. Die N-VA stellte bereits klar, dass sie in dem Fall aus der Koalition ausscheiden würde.

So überholt die politische Realität wieder einmal jede Fiktion. Dass ein spanischer Regionalpolitiker die belgische Regierung sprengen könnte, hätte sich vor kurzem noch niemand vorstellen können. Und mehr als das: Puigdemont könnte zum Helden aller regionalen Unabhängigkeitsbewegungen in Europa werden. Nicht nur die nationalistischen Flamen schlugen sich auf seine Seite, sondern auch die nach Unabhängigkeit strebenden Schotten. „Die Verhaftung gewählter Regierungschefs ist falsch und sollte von allen Demokraten verurteilt werden“, twitterte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon.

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