Flüchtlinge Wie Syrer in der Türkei leben und arbeiten

Bundeskanzlerin Merkel will, dass die Türkei ihre Syrien-Flüchtlinge im Land hält. Doch wie vielen von ihnen kann das Land eine wirtschaftliche Perspektive geben?

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Sieben Gründe, warum die Türkei-Wahl wichtig ist
Die Türkei ist Kandidat für einen EU-Beitritt und Mitglied der Nato, sie ist wichtiger Handelspartner und beliebtes Urlaubsziel. Nicht zuletzt leben knapp drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland. Die Parlamentswahl am 7. Juni in der Türkei könnte einen weiteren Machtzuwachs von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zur Folge haben. Sieben Gründe, warum das Land und die Wahl auch für Europa und Deutschland wichtig ist. Quelle: AP
Das Verhältnis zwischen dem Beitrittskandidaten Türkei und der EU (und dort besonders Deutschland) hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Ein Machtzuwachs Erdogans könnte dazu führen, dass sich beide Seiten noch weiter entfremden und sich die Türkei von Europa abwendet. Schon jetzt beteiligt sich die Türkei nicht an den Sanktionen gegen Russland – stattdessen baut sie die Zusammenarbeit mit Moskau etwa im Energiesektor aus. Quelle: dpa-dpaweb
Auch zwischen der Nato (hier: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg) und dem Mitglied Türkei ist das Verhältnis belastet. Dennoch bleibt die Türkei ein wichtiger Bündnispartner, der Unterstützung für schwierige internationale Einsätze wie den in Afghanistan leistet. Allerdings gilt auch hier, dass eine weitere Entfremdung droht, sollte Erdogan noch mehr Macht anhäufen. Quelle: dpa
Die Türkei ist Frontstaat im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Auf der syrischen Seite der Grenze steht die Terrormiliz Islamischer Staat. Westliche Länder wünschen sich mehr Unterstützung Ankaras im Kampf gegen den IS in Syrien und im Irak. Eine befürchtete zunehmende Islamisierung der Türkei könnte das Gegenteil bewirken. Quelle: AP
Die Türkei ist Aufnahmeland für knapp 1,8 Millionen syrische Flüchtlinge. Ohne die international gelobte türkische Hilfsbereitschaft wäre der Ansturm auf Europa ungleich höher. Quelle: AP
In Deutschland leben knapp 2,8 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, rund die Hälfte davon ist bei der Parlamentswahl in der Türkei wahlberechtigt. Dass gesellschaftliche Konflikte in der Türkei auch auf Deutschland ausstrahlen, zeigen beispielsweise Zusammenstöße vor Auftritten Erdogans in der Bundesrepublik. Quelle: dpa
Die Türkei ist ein bedeutender Wirtschaftspartner. Zwar gehört sie nicht zu den größten Außenhandelspartnern Deutschlands, liegt aber mit einem Umsatz von knapp 33 Milliarden Euro immerhin auf Rang 17. Quelle: dpa

Als der Krieg begann, scharte Sherif Kahlil aus Aleppo seine beiden Töchter, seine Frau und seine sechs Angestellten um sich, mit einem Auto flohen sie von Syrien in die Türkei. Jetzt sitzt der 51-Jährige in einem Kabuff am Rande von Gaziantep in Südostanatolien und raucht. Während er spricht, breiten seine Mitarbeiter hellblaue T-Shirts auf einer Werkbank aus und besprühen sie mit Farbe. „Wir machen das Design selbst“, sagt Kahlil stolz, „Barcelona Football“ steht auf den T-Shirts, 2000 produziert er am Tag. Die T-Shirts verkauft Kahlil nach Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien. Seine Töchter studieren an der Universität von Gaziantep, sie mögen das Land, aber ihr Vater sagt: „Ist der Krieg vorbei, kehren wir zurück nach Syrien.“ Das ist die eine Seite der Flüchtlingskatastrophe in der Türkei, jenem Land, in dem gerade mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge leben, mehr als in irgendeinem anderen Staat. Kahlil ist ein gut ausgebildeter Unternehmer, der die Wirtschaft des Gastlandes ankurbelt und nach Hause will, sobald das Schlimmste überstanden ist. Die andere Seite hat dreckige Hände und verschmutzte Klamotten.

Die Akteure im Syrien-Konflikt

In der Innenstadt von Gaziantep schleift ein Junge einen Plastiksack, größer als er selbst, durch die Straßen. An einer Mülltonne hält er an und durchwühlt deren Inhalt. „Ich suche nach Plastikflaschen“, sagt der Junge auf Arabisch. Er sei Syrer, seine Mutter krank, sie brauche Geld für Medikamente. Fragt man ihn nach seinem Namen, will der Junge Geld. Zwei Extrema, irgendwo dazwischen ist Bahlaa Buklak zu verorten. Der frühere Inhaber eines Marmorgeschäfts im syrischen Palmyra betreibt seit drei Monaten einen Falafel-Laden in Gaziantep. Sein Vermögen musste Buklak zurücklassen, als die Henker vom „IS“ in sein Land einmarschierten. Heute reicht sein Verdienst kaum noch aus, um die siebenköpfige Familie zu ernähren. „Wir sind nur noch in der Türkei, weil es hier sicher ist“, sagt er. „Wird die Wirtschaftslage nicht besser, müssen wir nach Deutschland.“ Genau das will Kanzlerin Angela Merkel aber mit ihrem „Türkei-Plan“ um jeden Preis verhindern, den sie bei einem EU-Sondergipfel Anfang März festzurren möchte. Sie wünscht sich zudem, dass die Türken künftig alle Flüchtlinge, die über die Ägäis oder über die türkisch-griechische Landesgrenze Griechenland erreichen, sofort wieder zurücknehmen. So sollen endlich weniger Flüchtlinge den Weg bis nach Deutschland schaffen – und Merkel eine Atempause in der Flüchtlingskrise verschaffen. Aber kann das gelingen – insbesondere Merkels zweiter Baustein ihres „Türkei-Plans“, nämlich dass die Flüchtlinge sich durch rasche Integration in den türkischen Arbeitsmarkt dort bald so wohl fühlen werden, dass sie gar nicht mehr weiter fliehen wollen?

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