Flüchtlingshilfe im Mittelmeer Die umstrittenen Einsätze vor Libyens Küste

Ermuntern NGOs die Schleuser, Menschen auf die gefährliche Überfahrt zu schicken? Oder erledigen die privaten Retter die Pflichten, die die Staaten missachten? Fragen, die unsere Reporterin auf ihrer Reise umtreibt.

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Migrants smile on the MV Aquarius rescue ship after being rescued by SOS Mediterranee organisation during a search and rescue (SAR) operation in the Mediterranean Sea, off the Libyan Coast, September 15, 2017. REUTERS/Tony Gentile Quelle: Reuters

Trapani/Sizilien Seit 2014 finden die Rettungseinsätze der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) immer näher an der Libyschen Küste statt: Die „Aquarius“ patroulliert etwa 25 Seemeilen vor der Küste, Libyens Territorialgewässer erstrecken sich auf 12 Seemeilen. Die Boote, in denen die Schmuggler Flüchtlinge aufs Meer schicken, seien so seeuntauglich, dass mit mehr Abstand jede Hilfe zu spät käme. So argumentieren viele der Hilfsorganisationen. Ihre Rettungsaktionen koordiniert und leitet das Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC). Das MRCC sitzt in Rom und wird von italienischen Behörden geführt.

Einige Regierungen und EU-Beamte halten dagegen. Sie argumentieren, dass erst der Einsatz der privaten Organisationen die Schleuser ermuntere, Menschen auf die gefährliche Überfahrt zu schicken. So forderte Sebastian Kurz, Österreichs Außenminister, „der NGO-Wahnsinn muss ein Ende haben“. Auch Fabrice Leggeri, der Direktor der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex warnte: „Wir müssen verhindern, die Geschäfte der kriminellen Netzwerke und Schleuser in Libyen dadurch zu unterstützen, dass die Migranten immer näher an der libyschen Küste von europäischen Schiffen aufgenommen werden.“

Dass die Schiffe der NGOs eine Magnetwirkung entfalten, also ein „Pull Faktor“ sind, dem widersprechen allerdings nackte Zahlen. Tausende Menschen fliehen seit Monaten von Libyen über das Mittelmeer. Ob Rettungsschiffe nach ihnen suchen oder nicht.

Der einzige Unterschied ist die Zahl der Todesopfer. Die steigt ohne die Rettungsaktionen der privaten Helfer, die 2016 an mehr als 40 Prozent der Hilfseinsätze im Mittelmeer beteiligt waren. Das belegt sowohl eine aktuelle Studie der Universität Oxford als auch des Instituts Forensic Oceanography an der Goldsmith Universität London.

Aus Sicht der Studienautoren von Forensic Oceanography fahren Flüchtlinge „wegen der chaotischen und gewalttätigen Situation in Libyen“ auf immer seeuntauglicheren Booten übers Meer. Als einen weiteren wichtigen Grund nennen sie die Operation der Europäischen Union im Mittelmeer gegen Menschen-Schmuggel. Deren Mitarbeiter zerstörten die besseren Holzboote, um das Geschäft der Schmuggler zu unterbinden. Statt aufzugeben, weichen die Schleuser aber nur auf noch schlechtere Fahrzeuge wie primitive Schlauchboote aus.

Die Autoren konstatieren: „Da Staaten sich nicht proaktiv an Rettungsaktionen beteiligen, tun es die NGOs. Ohne ihren Einsatz wären viele Migranten gestorben [...]. Die Arbeit dieser Organisationen bleibt weiter nötig. Sollten de-legitimierende und kriminalisierende Kampagnen fortlaufen und sie zwingen, ihren Einsatz zurückzufahren, besteht das Risiko, dass viele weitere Menschen auf dem Mittelmeer sterben“.

Unsere Reporterin Anna Gauto berichtet regelmäßig von ihren Erlebnissen auf der „Aquarius“. Lesen Sie hier ihre erste Geschichte „Libysche Küstenwache ruft um Hilfe“. Ihren Bericht „Notfalltraining auf hoher See“ finden Sie hier.

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