Flüchtlingskrise Überleben in der Grenzstadt Kilis

Wie viele Flüchtlinge verträgt eine Gesellschaft? In der türkischen Grenzstadt Kilis wirkt diese Frage akademisch. Dort leben mehr Syrer als Einheimische. Dass die Spannungen zunehmen, liegt nicht an den Flüchtlingen.

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Zerstörtes Auto in Kilis nach Raketenbeschuss: Die Stadt an der syrischen Grenze ist zum – gefährlichen – Zufluchtsort vieler Syrer geworden. Quelle: AFP

Kilis Wüssten die Türken in Kilis über den Anteil der Flüchtlinge an der deutschen Bevölkerung Bescheid, sie würden wohl müde lächeln. Die Stadt an der syrischen Grenze ist zum Zufluchtsort so vieler Syrer geworden, dass deren Zahl die der regulären Einwohner inzwischen übersteigt, und zwar deutlich. Nach offiziellen Angaben kommen in Kilis auf 90.000 Türken mehr als 130.000 Flüchtlinge. Dennoch funktioniert das Zusammenleben – bislang zumindest.

Angesichts des Zahlenverhältnisses verwundert es kaum, dass Syrer das Straßenbild von Kilis prägen. Viele Läden sind auf arabisch beschriftet, manche davon gehören Syrern, die versuchen, sich im Exil eine neue Existenz aufzubauen. Türkische Friseure bieten ihre Dienste in der Sprache des Nachbarlandes an, schließlich bezahlen auch Araber für die Pflege ihrer Haarpracht gutes Geld.

Imbisse tragen Namen wie „Al Tayyib“, was nichts mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu tun hat, dem viele Syrer für seine Aufnahmebereitschaft dankbar sind, sondern auf Arabisch in etwa „Der Leckere“ heißt. „Die Türken lieben Falafel und Humus“, erklärt Imbiss-Mitarbeiter Chadir Faham den Erfolg bei den Einheimischen. Der Dönerspieß gleiche zwar dem bei der türkischen Konkurrenz, die syrische Knoblauchsoße mache aber den kulinarischen Unterschied.

Goldhändler Metin Sunar stammt aus Kilis und hat den Wandel seiner Stadt miterlebt. Eigentlich wäre es dem 42-Jährigen lieber, die Flüchtlinge gingen wieder in ihr Heimatland. Solange dort aber Krieg herrsche, könne man sie auf keinen Fall zurückschicken. „Als Muslime sind wir verpflichtet, Menschen in Not zu helfen“, sagt er. „Türken und Syrer leben hier friedlich zusammen.“

Zwar sei der Zustrom der Nachbarn eine Belastung für Türken in Kilis, weil die Bevölkerungsexplosion etwa zu dramatisch gestiegenen Mieten geführt habe, sagt Sunar. „Aber es gibt auch Vorteile.“ So seien Syrer oft besser ausgebildet als Einheimische, trotzdem seien sie sich für keine Arbeit zu schade. Aus Sunars Sicht als Arbeitgeber zählt vor allem: Syrer arbeiten für deutlich weniger Geld als Türken.

Davon profitiert auch Sunars Nachbar auf dem Basar, Ali Yeminicioglu, der Handtücher und Bettwäsche verkauft. Seine syrischen Angestellten verdienen 120 Lira die Woche, also keine 40 Euro. Die türkischen Mitarbeiter bekommen 200 Lira. „Für uns sind die Flüchtlinge gut“, sagt der 35-Jährige – das gelte auch für den Umsatz, der dank der gewachsenen Kundschaft um 30 bis 40 Prozent zugelegt habe.


„Ich habe keine Angst vor den Türken, aber vor ihren Reaktionen“

Wie nah der Syrien-Krieg ist, wird in Kilis immer wieder deutlich. Schilder weisen den Weg nach Aleppo, in die umkämpfte Metropole wären es keine 70 Kilometer Fahrstrecke, wäre die Grenze offen. Am Grenzzaun einige Kilometer östlich hört man Gefechtslärm, Rauch steigt am Horizont auf. Zusätzlich zum Zaun hat die Türkei hier noch eine Mauer hochgezogen, um Übertritte von und nach Syrien zu stoppen.

Der nahe Krieg greift immer stärker auf Kilis über – was nun doch zu spürbaren Spannungen zwischen Türken und Syrern führt. Seit Januar schlagen immer häufiger Raketen in Kilis ein, meist wird dafür die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verantwortlich gemacht, die Landstriche auf der anderen Seite der Grenze kontrolliert. Mit der Zunahme der Angriffe wächst die Zahl der Toten in Kilis.

Wegen der akuten Raketenbedrohung wurde ein Besuch von Angela Merkel in Kilis abgesagt. Die Bundeskanzlerin reiste am vergangenen Samstag stattdessen in die Nachbarprovinz Gaziantep, um sich in einer weniger explosiven Umgebung über die Lage der Flüchtlinge zu informieren. Der Beschuss von Kilis war dennoch Thema. „Das sind unhaltbare Zustände“, sagte Merkel. Die Lage in Kilis zeige die Dringlichkeit, bei den Friedensbemühungen für Syrien voranzukommen. Keine zwölf Stunden nach Merkels Abflug schlugen wieder Raketen in Kilis ein.

Vor kurzem kam es wegen der Raketenangriffe zur ersten Demonstration gegen die Syrer in Kilis. Die rund 100 Demonstranten machten sie mitverantwortlich dafür, dass der Krieg über die Grenze schwappt. Angesichts dessen, dass Flüchtlingskinder unter den Raketenopfern sind, erscheint das weder logisch noch besonders feinfühlig.

Demonstranten warfen Scheiben syrischer Geschäfte ein, getroffen hat es auch „Al Tayyib“. Imbiss-Mitarbeiter Faham will daraus keine große Sache machen. „So etwas kann überall auf der Welt passieren“, wiegelt der 34-Jährige ab. Dann fügt er doch hinzu: „Ich habe keine Angst vor den Türken, aber vor ihren Reaktionen.“ Auch Fahams Landsmann Mustafa Schahabeddin fragt sich, wie die Reaktionen wohl ausfallen, wenn die Angriffe weitergehen. „Heute sind es 100 Demonstranten“, sagt der 25 Jahre alte Ladenbesitzer. „Aber morgen sind es vielleicht mehr.“

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