Flüchtlingslager in Griechenland Gefangen in der „Haftanstalt“ von Lesbos

Das EU-Türkei-Abkommen zwingt Flüchtlinge in legale Auffanglager. Die Lebensbedingungen verschlechtern sich, die Behörden kommen nicht nach. Orange-Korrespondent Paul Ostwald liefert erschreckende Einblicke.

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Diese Fotos wurden Orange zugespielt. Sie zeigen die Situation im Lager Moria. Die ist nicht verheerend, aber angespannt und sich ständig verschlechternd. Vor allem eins gibt es nicht: Bewegungsfreiheit.

Lesbos „Wir sind vor Krieg geflüchtet, jetzt sitzen wir in Griechenland unter unmenschlichen Bedingungen im Knast“, schreibt Karim Suleyman (Name geändert) über WhatsApp. Er ist sparsam mit seinen Nachrichten, seine Internetverbindung ist bereits gedrosselt. Er kann sein Handyguthaben nicht mehr aufladen, seitdem er das Regierungslager Moria auf der Insel nicht mehr verlassen darf. „Wir müssen inzwischen auf dem Boden des matschigen Innenhofs schlafen, weil es einfach keinen Platz mehr gibt. Die Polizei guckt zu und sagt, wir sollen auf Regen warten, wenn wir nach Wasser fragen.“ Er schickt noch einige Bilder, die er trotz Verbots der Polizei gemacht hat. Das braucht den Rest seines Datenvolumens auf, die Verbindung bricht ab.

Berichte wie diese verschaffen einen Eindruck davon, wie das Abkommen der Europäischen Union (EU) mit der Türkei zu wirken beginnt. Und sie wecken Zweifel, ob dabei noch menschenwürdige Bedingungen herrschen. Die griechische Regierung hat im Zuge des Deals viele Flüchtlingslager in geschlossene Camps umgewandelt. So wollen die Behörden Asylanträge schneller bearbeiten. Abgelehnte Antragsteller sollen direkt in die Türkei abgeschoben werden. Helfer kritisieren die Praxis. Melissa Flemming vom Uno–Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht von „Haftanstalten“. Flüchtlingen sei das Verlassen des Lagers verboten und so lange ihr Antrag nicht bearbeitet sei, gelten sie juristisch als illegale Einwanderer.

Polizeipatrouillen hinter Stacheldrahtzaun, Gitter vor den Fenstern der grauen Wohnboxen und Wachtürme an den Eckpunkten des Geländes deuten darauf hin, dass Flemming Recht hat: Einmal im Lager, gibt es kein Zurück.

Auch andere Organisationen schimpfen über diesen Umgang mit den Flüchtlingen. „Weiterhin in diesen Lagern zu bleiben würde uns zu Komplizen eines unfairen und inhumanen Systems machen“, sagt Marie Elisabeth Ingres, Leiterin von Ärzte Ohne Grenzen in Griechenland. Ihre Organisation hat sich vergangene Woche aus dem Lager Moria zurückgezogen. Es war ein Rückzug aus Protest, an dem sich auch viele andere Organisationen wie Oxfam beteiligt haben. Kurz darauf kamen Mitarbeiter von Ärzte Ohne Grenzen aber zurück, um Flüchtlinge medizinisch zu versorgen. „Wir haben festgestellt: Wenn wir nicht helfen, tut es keiner“, sagt eine Ärztin, die anonym bleiben möchte.

Insgesamt sollen in Griechenland mehr als 50.000 Flüchtlinge warten, die meisten hoffen auf ein Leben in Deutschland oder Frankreich. Laut dem am 18. März unterzeichneten EU-Türkei-Abkommen sollen 6000 von ihnen jeden Monat in einem anderen EU-Land angesiedelt werden. Das heißt: 6000, deren Asylantrag genehmigt wird und die sich vor dem 20. März bereits in Griechenland befanden. Wer danach ankam oder nicht belegen kann, dass er bereits vor dem Abkommen in Griechenland weilte, steht wohl der Rücktransport in die Türkei bevor – es sei denn, er stammt aus Syrien. Würde das alles so gelingen, wären die griechischen Camps bis Ende des Jahres leer. Doch die aktuelle Lage lässt anderes vermuten. Etwa eine Woche nach Einführung der neuen Flüchtlingspolitik zeigt sich jetzt immer mehr, wie sehr die griechischen Behörden an dieser Mammutaufgabe scheitern.


Reiche Flüchtlinge sollen sich Bleiberecht erkaufen

Unterstützung kommt aus Berlin und Paris. Die Bundesregierung entsendete jedenfalls schon einen Tag vor Inkrafttreten des Türkei-Abkommens 300 Bundesbeamte zur Unterstützung der griechischen Kollegen. Frankreich stellte rund 200 Beamte, die hauptsächlich die EU-Grenzschutzbehörde FRONTEX und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen EASO unterstützen.

Lange Zeit mussten Flüchtlinge ihren Asylantrag zwar unter Mithilfe von UNHCR in offiziellen Regierungslagern wie dem Hotspot Moria stellen, durften danach aber das Lager wieder verlassen und während der Bearbeitungszeit in anderen Camps oder bei Freiwilligen wohnen. In vielen der inoffiziellen Lager stiegen die Bewohnerzahlen zuletzt immer weiter. In den Werften von Piräus wohnten am Osterwochenende mehr als 5000 Migranten ohne fließendes Trinkwasser und gesicherten Zugang zu Nahrung. Human Rights Watch spricht bereits von einer „humanitären Krise mitten in einer europäischen Hauptstadt“.

In Griechenland gibt es jetzt für die Flüchtlinge noch drei Alternativen. Erstens, sie bleiben weiterhin illegal auf griechischem Boden und verstecken sich vor den Behörden, ohne Aussicht auf Asyl aber dafür uneingeschränkt in ihrer Bewegung. Zweitens, sie melden sich bei den Behörden um einen Asylantrag stellen zu können, müssen sich dazu aber praktisch in Haft begeben. Drittens, sie versuchen auf anderen Wegen in andere EU–Staaten zu gelangen, wie etwa die illegale Überquerung der mazedonischen Grenze und dann mit Schmugglern die inzwischen geschlossene Balkanroute entlang. Die letztere ist mit Sicherheit die gefährlichste, und ob Deutschland dann das Dublin Abkommen umsetzen würde und ihren Asylantrag von dort bearbeiten würde, oder sie nach Griechenland zurücktransportieren würde um dem Abkommen Nachdruck zu verleihen, bleibt offen.

Eine vierte Alternative möchte jetzt der stellvertretende griechische Außenminister Dimitris Mardas schaffen. Sein Vorschlag an Flüchtlinge, die mehr als 250.000 Euro auf dem Konto haben, ist in die krisengebeutelte griechische Wirtschaft zu investieren. So sollen sie sich ihr Bleiberecht erkaufen. Für die meisten ist das leider keine Alternative, es mangelt am nötigen Kleingeld. Bekannt für konstruktive Vorschläge ist Madras in Europa nicht, er hatte bereits 2015 Aufmerksamkeit erregt, als er Reparationszahlungen vom deutschen Staat forderte.

Seitdem der Kontakt zu Suleyman abgebrochen ist, kommuniziere ich mit Akim Al Shaar (Name geändert), der ebenfalls im Hotspot Moria wohnt. Sein WhatsApp–Kontaktbild zeigt einen jungen Mann im Café mit seiner Freundin, eine Szene aus seinem vergangen Leben in der syrischen Hauptstadt. „Das Schlimmste ist nicht zu wissen, was passiert – und dem ausgeliefert zu sein“, berichtet Al-Shaar. Während die EU und Griechenland über die Umsetzung ihres Abkommens und die Verteilung der Flüchtlinge diskutieren, sind die Verlierer wie so oft diejenigen, die am wenigsten politisches Kapital haben. Für Flüchtlinge bedeutet die Internierung auch den Kontrollverlust über den letzten Teil ihrer Identität, den sie vor den Waffen der Bürgerkriege retteten konnten: ihrer Autonomie. „Wir brauchen Freiheit, sonst können wir an unserer Lage nichts ändern“, sagt Al–Shaar bevor auch bei ihm das Guthaben aufgebraucht ist.

Paul Ostwald, zwischen Köln und Nairobi aufgewachsen, studiert Philosophie, Politikwissenschaften und Volkswirtschaft in Oxford und schreibt von dort als Kolumnist für Orange, das junge Wirtschaftsportal des Handelsblatts. Auf freiwilliger Basis unterstützt er derzeit auf der Insel Lesbos die Hilfsorganisation „Better Days for Moria“ und wurde vor Ort vom EU-Türkei-Abkommen überrascht. In einem Online-Tagebuch schildert er seine Eindrücke von der Insel. Der Kontakt zu ihm ist schwierig, da die verzweifelte Lage der Flüchtlinge zu einer Überlastung der Telefonnetze führt.

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