Forschungscluster Paris-Saclay Frankreich zwischen Ambition und Größenwahn

Südlich von Paris will die französische Regierung ein Forschungscluster von Weltklasse aus dem Boden stampfen. Das soll eines Tages mit dem Silicon Valley gleichziehen. Geniestreich oder Wahnsinn? Die Wette ist offen.

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Auf dem Campus sind bereits 90.000 Quadratmeter an Labors, Hörsälen und Wohnheimen gebaut worden, 390.000 sind im Bau oder geplant. Quelle: EPA Paris-Saclay

Paris Frankreich fasziniert und verwirrt immer wieder durch seine Versuche, „par ordre du mufti“ Projekte von globaler Bedeutung zu verwirklichen. Unter De Gaulle wollte es eine weltweite Norm für das Farbfernsehen etablieren und scheiterte damit gründlich. Die Absicht, trotz eines amerikanischen Boykotts einen eigenen Nuklearsektor aufzubauen, gelang: Frankreich hat die Bombe und den größten Park von Atommeilern weltweit. Für eine führende Rolle in der Elektronikindustrie dagegen hat der französische Staat zwar seit den 70er-Jahren Milliarden Euro aufgewendet, doch die Resultate sind bestenfalls gemischt.

Wie wird man in ein paar Jahren die Idee einordnen, mit „Paris-Saclay“ eines der bedeutendsten globalen Wissenschafts- und Technikcluster aus dem Boden zu stampfen: Top oder Flop, Genie oder Wahnsinn?

Auf dem Plateau von Saclay, rund 20 Kilometer südwestlich von Paris entfernt, entsteht eine Ansammlung von staatlichen und privaten Forschungseinrichtungen, Eliteschulen, Universitäten und Wohnvierteln. Wieder greift das Land nach den Sternen: Frankreich will mit Paris-Saclay in die Weltspitze der Forschungs- und Technologiecluster aufsteigen und gleiche Augenhöhe mit dem Silicon Valley erreichen. Schon heute habe man 50.000 Arbeitsplätze in der Hochtechnologie erreicht, die Universität Paris-Saclay zähle 10.000 Forscher, rechnet Philippe Van de Maele vor, der die Öffentliche Planungsbehörde (EPA) Paris-Saclay leitet. Doch dabei wird vieles aufaddiert, was noch keine räumliche oder funktionale Einheit bildet.

Der französische Zentralismus ist legendär. Er macht solche kühnen Projekte möglich. Doch Behörden, Institutionen und Kommunen halten die Befehle von oben manchmal beharrlich auf, bis sie zu Staub zerfallen. Bereits 1965 fasste die Regierung den Beschluss, auf dem Plateau von Saclay eine „Stadt der Wissenschaften“ mit 500.000 Einwohnern zu bauen. Ein pharaonisches Projekt, aus dem nichts wurde.

Schon im 17. Jahrhundert spielte Saclay eine Rolle bei einem anderen tollkühnen Vorhaben: der Idee des Sonnenkönigs Ludwig XIV., ausgerechnet in der trockenen Ebene von Versailles ein Prunkschloss mit Dutzenden von Teichen und Springbrunnen zu errichten. Die feuchte Hochebene von Saclay wurde zur Ader gelassen, um das Schloss und die Wasserspiele von Versailles zu speisen, die heute Millionen von Touristen begeistern. Der Erfolg dieses von einem absolutistischen Monarchen vorangetriebenen Entschlusses prägt die französische Psyche wohl noch jetzt.

Die ersten Versuche von Technik und Wissenschaft auf dem Plateau sind mit der Luftfahrt verbunden. Von den acht Flugplätzen, die es hier gab, ist heute noch einer übrig. Anfang des 20. Jahrhunderts siedelten sich mehrere Pioniere der Luftfahrt an, darunter Louis Blériot. Doch später konzentrierte sich die Industrie in Toulouse.

Die politischen Entscheider Frankreichs schaffen es allerdings, einige der besten Köpfe nach Saclay zu holen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkten das neue Kommissariat für Atomenergie (CEA) und das Institut für hohe wissenschaftliche Forschung (IHES) als Magneten. General De Gaulle und seine Mitarbeiter sahen die Nuklearforschung als Schlüssel für die wirtschaftliche und militärische Unabhängigkeit Frankreichs an. Das CEA war ihr Instrument.

Zum ersten Direktor des Kommissariats in Saclay wurde Frédéric Joliot-Curie berufen, der mit seiner Frau Irène 1935 den Nobelpreis für Chemie erhalten hatte. Gerade die Forschung über Radioaktivität war damals hoch politisiert: Joliot-Curie war weit links engagiert und hatte sich am kommunistischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung beteiligt, übrigens auch sehr handfest: Sein „Joliot-Curie-Cocktail“ setzte einige Panzer der Wehrmacht außer Gefecht.


Die ersten Wohnkomplexe stehen schon

Begeistert von der zivilen Nutzung der Kernenergie bauten er und seine Frau das CEA in Saclay auf. Den militärischen Hintergedanken De Gaulles konnten sie nicht viel abgewinnen. 1950 setzte De Gaulle Joliot-Curie wegen seiner Verbindungen zu den Kommunisten ab. Ein ähnliches Schicksal erlitt der Polytechnique-Professor Laurent Schwartz, der entlassen wurde, weil er den Algerien-Krieg kritisierte und mit den Rebellen des Vietcong sympathisierte. Am IHES lehrte Alexander Grothendieck, ein Mathematik-Genie, dessen Vater in Auschwitz von den Nazis ermordet wurde. Grothendieck überlebte mit seiner protestantischen Mutter in Frankreich, durfte zu nächst aber nicht unterrichten, weil er staatenlos war. Später trug er dazu bei, den weltweiten Ruf der französischen Mathematiker zu stärken.

Saclay wurde in den 60er- und 70er-Jahren weiter aufgewertet durch den Zuzug wichtiger Institutionen wie des CNRS (Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung) und der Elite-Ingenieurschule Polytechnique. Am CEA wurde ein Synchroton, ein Teilchenbeschleuniger, gebaut, das heute Wissenschaftler aus der ganzen Welt anzieht. Die Idee der Wissenschaftsstadt aber zündete nicht. Nicht alle, die mitmachen sollten, waren davon überzeugt, dass der Cluster-Gedanke der Weg zum Erfolg sei.

Der Glaube daran, man könne ein funktionierendes Cluster auf Wunsch der Politik schaffen, steht bis heute hinter Paris-Saclay. „Große Unternehmen suchen die Nähe zu Forschungseinrichtungen und Studenten, durch deren Konzentration auf dem Plateau werden wir es schaffen, die besten Forscher und Studenten anzuziehen“, erläutert Franck Caro, stellvertretender Generaldirektor der EPA (Öffentliche Planungseinrichtung) Paris-Saclay.

Einen neuen Aufschwung hat die Idee Ende der 2000er-Jahre unter Nicolas Sarkozy erfahren. Der widmete eine Milliarde Euro aus dem Aufkommen einer großen Anleihe dem Wissenschaftsstandort. Das Vorhaben kommt inzwischen etwas bescheidener daher. Von einer Stadt mit hunderttausenden Einwohnern ist nicht mehr die Rede, nur noch von einem „projet urbain“ mit ein paar Tausend Bewohnern. An dem wird auch schon fleißig gebaut, die ersten Wohnkomplexe für Studenten stehen bereits. Die sozialistische Regierung unter Manuel Valls hat beschlossen, Paris-Saclay mit öffentlichen Verkehrsmitteln an die Hauptstadt anzuschließen. Von Orly aus soll eine neue Metrolinie 18 die Verbindung herstellen.

Nach zähem Widerstand einiger Teilnehmer haben sich inzwischen 18 Gründungsmitglieder dazu bereitgefunden, als „Université Paris-Saclay“ zu firmieren. Dazu zählen hoch angesehene Institutionen wie die führende Managementschule HEC oder die Technik-Eliteuniversitäten Supélec und Mines-Télécom.

Der neue Name steht allerdings nicht für eine echte Verschmelzung. Die Polytechnique beispielsweise legt Wert darauf, ihre Unabhängigkeit zu behalten. „Wir bleiben selbständig, leisten aber bestimmte Aktivitäten mit der neuen Universität gemeinsam.“ stellt Cécile Mathey von der Eliteschule klar. Die Universität sei „keine Fusion“, sondern eher Kooperation. Die ersten gemeinsamen Studiengänge und Abschlüsse wurden vereinbart. Die neue Dachmarke ist auch ein Trick des Wissenschaftsmarketings: Dadurch rückt man in den Ratings der Veröffentlichungen in anerkannten Fachzeitschriften nach oben.

Die räumliche Abgrenzung von Paris-Saclay ist manchmal etwas schwammig. Das Gebiet, in dem die EPA aktiv ist, reicht weit über das Plateau von Saclay hinaus. Es beginnt bei La Verrière ganz im Westen und geht bis Palaiseau im Osten, rund 30 km entfernt. Wenn die EPA von den Clustern für Luft- und Raumfahrt, Informations- und Kommunikationstechnologie, Energie, Gesundheit und Mobilität spricht, die es in Paris-Saclay gebe, rechnet es einfach alle staatlichen und technischen Forschungseinrichtungen zusammen, die sich in diesem Raum niedergelassen haben, auch solche von Peugeot, Renault, BMW und Mercedes. Dabei haben die teilweise wenig mit dem Gedanken des Wissenschaftspols zu tun und haben lediglich einen Standort in der Nähe von Paris gesucht. Durch diese Art der Addition kann die EPA aber darauf verweisen, dass bereits heute „15 bis 20 Prozent der gesamten französischen staatlichen und privaten Forschung in Paris-Saclay geleistet werden“.


Geht das Konzept auf?

Am ehesten wie eine funktionale Einheit wirkt der deutlich kleinere „Campus Universitaire“, der von den Labors des CEA im Nordwesten bis zu den ausgedehnten Pferdeweiden der Polytechnique im Osten eine Ausdehnung von rund sechs Kilometern hat. Dort finden sich der Kern der Universität und der staatlichen Forschungseinrichtungen, aber auch einige private Labors, etwa von Danone. Auf dem Campus sind bereits 90.000 Quadratmeter an Labors, Hörsälen und Wohnheimen gebaut worden, 390.000 sind im Bau oder geplant. 100 Hektar Ackerland müssen dafür weichen, wogegen sich eine lokale Bürgerinitiative wehrt. Die hält den fruchtbaren Boden so nahe an Paris für viel zu wertvoll, als dass man ihn für eine „ministerielle Schnapsidee aus der Vergangenheit“ opfern dürfe. Nichts anderes sei der Glaube an ein Cluster, schreibt die Initiative „Saclay Citoyen“. Die EPA hält mit dem Hinweis dagegen, dass 4000 Hektar Äcker und Wald geschützt seien und nicht bebaut werden dürften.

Für Caro und Van de Waele ist der große Vorteil des neuen Clusters, dass es auch unabhängig von Paris funktioniere. In Massy-Palaiseau gibt es einen eigenen TGV-Bahnhof, man muss also nicht in die Pariser Innenstadt, und nach Paris-Orly wird es die Metro geben. Doch der Großflughafen Charles de Gaulle liegt auf der anderen Seite der Hauptstadt, ganz im Norden.

Noch ist nicht klar, ob das Konzept aufgeht, zwar von der Attraktivität von Paris zu profitieren, aber gleichzeitig eigenständig sein zu wollen. Werden wirklich Tausende von Menschen lieber in der Retortenstadt des „Campus Universitaire“ leben als in der Seine-Metropole? Es gibt ein Leben nach dem Labor, und das ist in den Bistrots von Paris deutlich attraktiver als zwischen den seelenlosen Neubauten des neuen Campus. Wenn aber abends alle nach Paris oder in die Banlieue verschwinden, wird die zentrale Idee von Saclay nie Wirklichkeit: „Durch die räumliche Nähe, beim Wein oder Bier, sollen die Forscher sich näher kommen und ihr Silo-Dasein überwinden“, hofft Caro.

In der Hauptstadt entsteht derzeit der größte Startup-Inkubator der Welt mit Platz für 1000 junge Unternehmen. Schon heute hat Paris ein Cluster von Universitäten und Startups, das Sogwirkung entfaltet. General Electric hat seine „Digital Foundry“, sein Forschungszentrum für das industrielle Internet, das ganz Europa bespielt, mitten in Paris angesiedelt und nicht auf dem Plateau von Saclay. Warum? „Wir wollen in der Stadt sein und nicht auf dem platten Land“, sagt Vincent Chamain mit entwaffnender Offenheit. Er leitet die Digital Foundry.

Die große räumliche Ausdehnung von Paris-Saclay muss kein Nachteil sein. Auch die TU München ist auf drei weit entfernte Standorte verteilt. Doch damit Saclay einen höheren Stellenwert auf der Rangliste der Entscheider erhält, die einen Standort für ihr Labor oder Unternehmen suchen, müsste sich das Cluster besser vermarkten. Trotz des klischeehaft-sprichwörtlichen französischen Zentralismus gibt es noch keine zentrale Marketingbehörde für Saclay. Die EPA kann lediglich Immobilien anbieten. Wer Fragen zur Forschungs-Infrastruktur oder möglichen Kooperationen hat, bestimmte Kompetenzen in der Grundlagenforschung sucht oder bei angewandten Technologien, muss sich entweder an eines der Pariser Ministerien, eine der vielen beteiligten Kommunen, die Universität oder ein Unternehmen wenden. Eine zentrale Anlaufstelle wie in Berlin-Adlershof existiert nicht. Ambition oder Größenwahn? Die Wette ist noch offen.

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