Freytags-Frage

Was wird aus der türkischen Wissenschaft, wenn Erdogan mit ihr fertig ist?

Zigtausende Lehrer, Dozenten und Beamte im Wissenschaftsdienst wurden suspendiert. Für die Türkei ist das verheerend, denn Präsident Erdogan beraubt das Land seiner intellektuellen Zukunft.

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Die türkische Regierung hat direkt nach dem gescheiterten Militärputsch angefangen, nach den Verantwortlichen zu fahnden. Das ist nachvollziehbar. Allerdings vermutete die Regierung die Verantwortlichen unter anderem in der Wissenschaft, weswegen dem Vernehmen nach in den letzten Tagen über 1500 Dekane zum Rücktritt aufgefordert wurden.

Mehrere Rektoren wurden entlassen, türkische Wissenschaftler dürfen das Land im Moment nicht verlassen, im Ausland befindliche Kollegen wurden offenbar aufgefordert, schnellstens in die Türkei zurückzukehren. Darüber hinaus wurden 15.000 Beamte des Bildungsministeriums, darunter viele Lehrer, suspendiert, und 21.000 Lehrern an Privatschulen wurde die Lehrberechtigung entzogen.

Bis zum 5. August haben nun alle Zeit, sich zu ihrem Verhältnis  zur Gülen-Bewegung zu erklären. Hinweise von dritter Seite sind offenbar auch willkommen.

Es wurde schon viel darüber geschrieben, dass diese Maßnahmen so wirken, als wären sie längst geplant und die Regierung nur auf einen guten Anlass gewartet hat. Schon vor dem Putsch wurden Wissenschaftler, die sich regierungskritisch geäußert hatten, unter Druck gesetzt oder gar entlassen. Es leuchtet also unmittelbar ein, dass es nicht um die Verarbeitung des Putsches geht. Das wird hier nicht weiter diskutiert. Uns interessieren die Folgen einer solchen radikalen Einschränkung des wissenschaftlichen Arbeitens. Dies sind mögliche Konsequenzen:

- Jetzt schlägt die Stunde der Karrieristen, Opportunisten und Jasager. Diese werden auch ihre (gerade international) erfolgreichen Kollegen denunzieren und auf diese Weise an gute Positionen kommen wollen. 

- Da sich eine totalitäre Regierung auf solche Leute verlassen kann, werden sie damit auch erfolgreich sein, d.h.es findet ein Austausch statt: Erste Liga wird entlassen (und inhaftiert), und dritte Liga übernimmt. An den Universitäten und Schulen wird in Zukunft eine Atmosphäre des Misstrauens und der Angst herrschen.

- Die guten türkischen Wissenschaftler werden versuchen, im Ausland arbeiten und leben zu können. Europa wird einen Brain Gain erfahren, weil die exzellenten Forscher hier zum intellektuellen Klima und zu Innovationen beitragen.

"Blutvergießen in der Türkei muss ein Ende haben"
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: dpa
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Quelle: AP
Europaparlaments-Präsident Martin Schulz Quelle: dpa
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat sich „zutiefst beunruhigt“ über den Putschversuch in der Türkei geäußert. „Alle Versuche, die demokratische Grundordnung der Türkei mit Gewalt zu verändern, verurteile ich auf das Schärfste“, sagte Steinmeier in einer ersten offiziellen Reaktion am Samstag in Berlin. Quelle: dpa
Angela Merkel geht in Ulan Bator beim Asien-Europa-Gipfel zusammen mit Regierungssprecher Steffen Seibert zu einer Sitzung. Quelle: dpa
Außenminister Frank-Walter Steinmeier Quelle: dpa
türkische Soldaten am Taksim-Platz in der Nacht zu Samstag Quelle: dpa

- In der Türkei hingegen wird die Forschung schwächer. Weniger Innovationen werden generiert. Aber auch die intellektuelle Auseinandersetzung um gesellschaftliche und (natur-)wissenschaftliche Themen werden abnehmen, wenn nicht absterben. Nebenbemerkung: Wenn die Bundesregierung jeden Wissenschaftler, der sich in sachlich-kritischer Weise zur Regierungspolitik äußert, juristisch mit Erfolg verfolgen könnte, wären die rechts-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten entvölkert; allerding hat die Bundesregierung weder das Recht noch die Absicht, die Dekane zu entlassen oder Kritiker mundtot zu machen.

- Dadurch, dass die Diskussion um die gesellschaftlichen Fragen ausbleibt, verringert sich auch die Fähigkeit der türkischen Gesellschaft, gesellschaftliche und politische Herausforderungen zu meistern. Es dürfte zu einer Interventionskaskade kommen.

- Fehlt die Forschungsexzellenz, wird auch die Lehre schwächer. Ohnehin hat die Türkei ja bereits jetzt eine Menge unternommen, die historischen Wahrheiten so hinzubiegen, dass ein bestimmtes Türkeibild an Schüler und Studenten vermittelt wird. Dies dürfte jetzt in nahezu allen (vor allem geistes- und sozialwissenschaftlichen) Fächern so werden.

Weitere mögliche Konsequenzen

- Folgende Generationen werden also eine von der internationalen Forschungsfront abgekoppelte Ausbildung erhalten.

- Dies gilt grundsätzlich weniger für naturwissenschaftliche Inhalten, die man politisch nicht so leicht manipulieren kann (auch die türkische Regierung kann nicht verfügen, dass die Erde eine Scheibe ist). Wenn allerdings türkische Wissenschaftler von den internationalen Netzwerken abgeschnitten sind, werden sie nicht immer auf dem neuesten Stand sein. Und ob internationale Spitzenkräfte unter den beschriebenen Bedingungen bereit sind, in der Türkei zu forschen und zu lehren, kann bezweifelt werden (zumal ja gegenwärtig auch die Gesinnung ausländischer Wissenschaftler überprüft werden soll).

"Der Präsident ist an der Macht"
An der Brücke feiern Regierungsanhänger das Ende des blutigen Militärputsches. Quelle: AP
In der Hauptstadt Ankara soll es weiterhin Schusswechsel geben. Hier gehen Zivilisten in Deckung. Quelle: REUTERS
Ankara in den frühen Morgenstunden Quelle: REUTERS
Chaos in Istanbul Quelle: AP
Erdogan am Flughafen Istanbul-Atatürk Quelle: REUTERS
Erdogan-Unterstützer warten Quelle: REUTERS
„Der Präsident ist an der Macht“, sagte Erdogan bei einer Pressekonferenz nach seiner Ankunft. Die Regierung werde hart gegen die Putschisten vorgehen. Quelle: AP

- Wahrscheinlich werden Studiengänge in Zukunft so aussehen, dass ein Großteil des Curriculums politisch oder religiös festgelegt wird.

- Damit dies funktioniert, muss die Indoktrinierung bereits in der Schule beginnen.

Als Folge dieses Szenarios würde man nicht mehr von einer lebendigen türkischen Wissenschaft sprechen können.

Es ist naiv zu glauben, dass die Türkei als Land davon profitieren kann. Im 21. Jahrhundert die Wissenschaft gleichzuschalten, macht wenig Sinn. Das Land scheint in die Vormoderne zurückzufallen. Dann entstehen die hochqualifizierten Jobs, die für die Fortsetzung des positiven Wachstumspfades der 1990er und 2000er Jahre nötig wären, gerade nicht. Das Land fällt kulturell zurück, weil nicht nur Wissenschaftler das Land verlassen wollen, sondern auch Künstler, Schriftsteller und politische Intellektuelle keine Heimat mehr haben.

Schlüsselstaat Türkei

Mehr Armut, weniger Vielfalt und abnehmende Fähigkeiten der Bürger sind nicht gut für die Bürger in der Türkei. Vielleicht ist es aber im Interesse der türkischen Regierung, die Menschen wirtschaftlich schlechter und ungebildeter zu halten. Die Türkei wird nicht groß, die Regierung aber stärker. Für ein Land, dass an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien vor enormen Herausforderungen steht, sind das düstere Aussichten. Langfristig wird das Land nicht stabiler, sondern es drohen Chaos und Instabilität. Das bedroht dann auch die Regierung, die es so auch nicht schaffen dürfte, ein positives Bild von sich für die Geschichtsbücher zu erzeugen. Am Ende verlieren alle.

Die türkische Regierung sollte sich einmal daran erinnern, dass es in Europa die Türkei war, die vielen deutschen Wissenschaftlern noch 1933 Zuflucht bot, z.B. dem Jenaer Ökonom Wilhelm Röpke. Das hat sowohl den Wissenschaftlern geholfen als auch der Türkei genutzt. Ähnlich war es in den USA; dort gab es einen Brain Gain durch europäische Wissenschaftler, während Europa, allen voran Deutschland mit den Folgen des Brain Drain und der Gleichschaltung der Wissenschaft nach 1945 noch lange zu kämpfen hatte.

"Dieses Jahr ist die reinste Katastrophe"
Vor der Wassersportanlage an der türkischen Riviera dümpeln zwei Jetski und Motorboote im türkisblauen Wasser. Die Leere hat sich manch ein Tourist vielleicht schon mal gewünscht, der sich bei 32 Grad mitten in der Hochsaison ein Plätzchen auf der Liege neben Hunderten anderen sichern musste. Verlassene Strände sind in diesem Jahr traurige Wirklichkeit in der Türkei. Das Land kommt nicht zur Ruhe: Auf Terroranschläge folgte ein Putschversuch – und nun auch noch der Ausnahmezustand. Pralle Sonne, stahlblauer Himmel, funkelndes Meer und gewaltige Berge: Weder die perfekte Urlaubskulisse noch die günstigen Preise oder der gute Service in den Hotels am Mittelmeer können so viele Touristen nach Antalya locken wie in den vergangenen Jahren. Quelle: dpa
Mehmet Tekerek am türkischen Strand Quelle: dpa
Konyaalti Quelle: dpa
Nur wenige Menschen bevölkern den Strand Konyaalti in Antalya. Quelle: dpa
Die Konsequenz dieser Unsicherheit lässt sich an der Statistik ablesen. Laut dem türkischen Tourismus-Ministerium ist die Zahl der Besucher, die im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat ins Land kamen, um knapp 22,9 Prozent gesunken. Betrachtet man die Region Antalya, wo die Menschen hauptsächlich vom Tourismus leben, sind die Zahlen noch dramatischer. Quelle: dpa
Turkish-Airlines-Maschine im Anflug auf Antalya Quelle: REUTERS
Der weltgrößte Reisekonzern Tui schätzt derweil, dass er in diesem Jahr mit einer Million Urlaubern nur rund halb so viele Gäste in die Türkei bringt wie 2015. Die Buchungen liegen bis jetzt 40 Prozent niedriger als im Vorjahr, nur das Last-Minute-Geschäft birgt noch Hoffnung. Quelle: dpa

Wenn die türkische Regierung tatsächlich die Türkei zu einer Großmacht des 21. Jahrhundert machen möchte, sollte sie die Grundlagen dafür nicht kappen. Ohne Wissenschaft kann das Land nur verlieren: Es würde ein politisches Leichtgewicht sein und kein Global Player.

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