Philip Hammond war ein gefragter Mann im fernen Chengdu. Der neue britische Finanzminister - gerade erst ein paar Tage im Amt - hatte in der südwestchinesischen Millionen-Metropole ein dichtes Gesprächsprogramm abzuarbeiten. Alles drehte sich beim zweitägigen Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs der Top-Wirtschaftsmächte (G20) um die große Frage: Wie wollen die Briten nach ihrem Anti-EU-Referendum aus der Europäischen Union aussteigen? Für seinen deutschen Amtskollegen Wolfgang Schäuble nahm sich Hammond ein gute dreiviertel Stunde Zeit - das erste persönliche Treffen der beiden Ressortkollegen.
Es gab viel zu reden. Doch die Botschaft der mächtigen G20-Runde lautete am Ende im Kern: Alles wird gut.
Großbritannien soll enger Partner bleiben
Von dem Alarmismus der vorangegangenen G20-Ministerrunden vor dem Brexit-Votum vor einem Monat war in Chengdu nichts mehr zu spüren. Die Gruppe der führenden Industrie- und Schwellenländer jedenfalls sieht sich gut gewappnet, um negative wirtschaftliche Folgen des britischen Referendums zu bewältigen. In ihrer Abschlusserklärung räumen die G20-Minister zwar ein, dass der Ausgang der Abstimmung zu den Unsicherheiten in der globalen Wirtschaft beigetragen habe. Man hoffe aber, dass Großbritannien ein enger Partner der EU bleibe.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Das war's in Chengdu dann auch schon in Sachen Brexit und Sorgen. Sechs Wochen vor dem G20-Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Hangzhou in Ost-China wollten die wichtigsten Volkswirtschaften ein Signal der Ruhe und Stabilität aussenden. Auch G20-Gastgeber China konnte zufrieden sein. Von Schelte für seine Überkapazitäten und sein Dumping von Stahl auf dem Weltmarkt sahen die G20 ab. Es sei eben ein „globales Problem, das eine kollektive Antwort erfordert“. Alle sollen sich wohl fühlen.
Zwar lässt die Erholung der Weltwirtschaft zu wünschen übrig, aber von zusätzlichen Konjunkturstützen auf Pump, um mögliche negative Brexit-Folgen abzufedern, war in der G20-Runde in der subtropischen 15-Millionen-Einwohner-Region keine Rede. Ganz im Sinne Schäubles. Einhelliger Tenor: Das kriegen die Briten schon selbst hin.
Hammond, der für den Verbleib Londons in der EU eingetreten war, verteilte Beruhigungspillen und sagte, die britische Wirtschaft stützen zu wollen. Von den Plänen seines Vorgängers im Amt des Schatzkanzlers, George Osborne, mit Niedrigsteuern für Unternehmen den globalen Steuerwettlauf anzuheizen und so auch Investoren im Land zu halten, ist offenbar keine Rede mehr. Schäuble dürfte Hammond klar gemacht haben, dass Deutschland und Großbritannien zwar eng zusammenarbeiten werden. Aber die beiden größten europäischen Volkswirtschaften würden jetzt keinesfalls vorab Austritts-Optionen ausloten - noch bevor London den Austritts-Antrag gestellt hat und die eigentlichen Verhandlungen beginnen.
Auch sonst hielten sich die warnenden Stimmen in Chengdu in Grenzen - trotz der vielen Konjunkturrisiken wie die Terroranschläge, der Ausnahmezustand im G20-Land Türkei, die schwächelnden Banken in Europa, die Flüchtlingsströme oder Konjunkturschwäche in einst boomenden Schwellenländern. Die G20 haben wohlwollend registriert, dass die weltweiten Finanzmärkte aktuell relativ stabil sind. Wohl auch, weil die Notenbanken als Konjunkturstützer früh eingegriffen haben. Doch haben sie ihr Pulver jetzt größtenteils verschossen.
Große Sorgen über Entwicklung in der Türkei
Ein Anderer nutzte die G20-Bühne in eigener Sache. Der türkische Vize-Premier Mehmet Simsek versicherte den G20-Partnern in Chengdu auf einem Steuer-Symposium noch kurz vor dem Ministertreffen: „Wir werden weiterhin entschieden die demokratischen Prinzipien befolgen.“ Und schiebt nach: „Es hat sich nicht wirklich viel verändert.“ Was andere G20-Staaten aber angesichts der Festnahme- und Entlassungswelle in der Türkei nicht unbedingt so sehen.
Gern hätten die Türken in der Abschlusserklärung der Minister in Chengdu eine Formulierung gesehen, nach der die G20 den Kurs der Regierung in Ankara stützen. Doch da zogen die anderen Minister nicht mit. Eine Passage dazu im gemeinsamen G20-Kommuniqué war bis zuletzt umstritten.
Am Ende wurde die Lage am Bosporus gar nicht extra erwähnt. Schäuble jedenfalls wollte nach eigener Aussage Simsek in einem Vier-Augen-Gespräch klar machen, dass es große Sorgen über die Entwicklungen in der Türkei gebe und dass das, was dort gerade stattfinde, nicht dem entspreche, „was wir unter Demokratie und Herrschaft des Rechts verstehen“.