Gefechte im Donbass eskalieren Die Ukraine steht wieder vor dem Krieg

Trotz des offiziellen Waffenstillstandes zwischen der Ukraine und den Rebellen der Donezker Volksrepublik eskalieren die Gefechte im Donbass. Die Menschen haben das Vertrauen in beide Seiten fast völlig verloren.

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Immer wieder gibt es auch zivile Opfer bei den Kämpfen zwischen den pro-russischen Rebellen (im Bild) und der ukrainischen Armee. Quelle: dpa

Moskau Die Gefahr lauert im Dunkeln: Kurz nach 22 Uhr wurden die Soldaten am Kontrollpunkt Bogdanowka im Gebiet Donezk mit Granatwerfern und Handfeuerwaffen attackiert. Doch die Männer seien vorbereitet gewesen und hätten Gegenwehr geleistet, heißt es im Rapport des ukrainischen Militärstabs. „Nach einer Stunde hat sich der Feind zurückgezogen“, Verluste gebe es keine.

Solche nächtlichen Angriffe – beiderseits – sind im Donbass trotz des geltenden Waffenstillstands schon lange keine Seltenheit mehr. Inzwischen wird wieder täglich geschossen – und nicht nur mit leichten Waffen. Das dabei die Zahl der Toten und Verletzten steigen, ist nur logisch. Am vergangenen Samstag eskalierten die Kämpfe so, dass innerhalb eines Tages sechs ukrainische Soldaten ums Leben kamen, 13 weitere wurden verletzt.

Betroffen von der Gewalt sind nicht nur Soldaten und Rebellenkämpfer, sondern auch Zivilisten. Im Juli wurden nach Angaben des UN-Hochkommissars für Menschenrechte Seid Raad al-Hussein 73 Zivilisten durch Beschuss oder Minen in Mitleidenschaft gezogen. So hoch war die Zahl zuletzt vor einem Jahr. Insgesamt nähert sich die Zahl der Todesopfer in dem Konflikt der Marke von 10.000 an.

Angesichts der wachsenden Spannungen steigt auch die politische Nervosität bei den Befehlshabern in Kiew und Donezk. Die ukrainische Militäraufklärung prognostiziert eine Großoffensive der Rebellen bis zum 8. August. „Es wurden Anzeichen für Kampfvorbereitungen des Gegners in Richtung Donezk und Slawjansk beobachtet“, heißt es in dem Bericht.

Der Sekretär des Sicherheitsrats Alexander Turtschinow, einer der „Falken“ in Kiew, drohte schon mit einer neuen Mobilisierung, sollte sich die Lage nicht beruhigen. Seit Wochen schon plädiert der einstige Übergangspräsident für die Ausrufung des Kriegszustands im Donbass.

Drohungen kommen auch von der anderen Seite: Rebellenunterhändler Denis Puschilin machte Kiew für die Verschlechterung der Sicherheitslage verantwortlich. „Die letzten fünf, sechs Tage hat sich die Lage maximal verschärft. Und wenn die Ukraine nicht wenigstens die ersten drei Punkte von „Minsk-2“ einhält, dann kommt es im Donbass ganz schnell wieder zu offenen Gefechten“, sagte er.

Die Kämpfe in der Ostukraine sind auch ein Indiz dafür, dass es an anderer Stelle hakt. Beide Seiten nutzten neue Gefechte oft genug als Ablenkungsmanöver bei aufkommenden Schwierigkeiten. Vor allem die wirtschaftlichen Probleme des Landes sind riesig. Die ukrainische Nationalbank hat gerade eingeräumt, dass das Wachstum im zweiten Quartal mit 1,6 Prozent „weniger deutlich“ ausfällt als ursprünglich angenommen. Nachdem es bereits seit zwei Jahren mit dem BIP nur nach unten geht (2015 offiziell ein Minus von 9,9 Prozent), hätte es schon mehr gebraucht, um die Stimmung in Kiew zu heben.

Die Bevölkerung ist wegen des rapide sinkenden Lebensstandards unzufrieden, im Juli haben Preiserhöhungen für Gas und Wohnnebenkosten weiteren Ärger hervorgerufen. Proteste in Kiew gehören zum Alltag. Die politische Führung steckt derweil in der Zwickmühle: Ohne weitere Einsparungen gibt es keine IWF-Kredite.


Hass auf die Ukraine, Hass auf die Rebellen

Der Mord am Journalisten Pawel Scheremet hat unterdessen die anhaltenden Sicherheitsprobleme in Kiew aufgezeigt. Scheremet war durch eine Autobombe getötet worden. Inzwischen ist ein Überwachungsvideo aufgetaucht, dass die mutmaßlichen Täter, ein Mann und eine Frau, beim Legen des Sprengsatzes zeigt. Gefasst wurden sie noch nicht.

Im Gegensatz zum Publizisten Oleh Busina, der im vergangenen Jahr wohl von ukrainischen Nationalisten ermordet wurde, galt Scheremet als Unterstützer der aktuellen Regierung. Präsident Petro Poroschenko sprach daher bei der Trauerzeremonie für den Journalisten von der „Eröffnung einer zweiten Front“.

Poroschenkos Zustimmungswerte sind durch diese Skandale und die Dauerkrise massiv abgestürzt. Das Umfrageinstitut GfK sieht ihn derzeit mit 14 Prozent nur noch auf dem vierten Platz in der Wählergunst, hinter Julia Timoschenko (21 Prozent), Juri Boiko und Oleh Ljaschko (je 15 Prozent). Gleichzeitig bewerten laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) 70 Prozent der Ukrainer Poroschenkos Tätigkeit negativ. Weniger Vertrauen haben die Bürger nur noch in das Parlament Rada, die 87 Prozent der Bevölkerung zum Teufel schicken will.

Östlich der Front sieht es keineswegs besser aus: Das Ansehen der Rebellen ist einer neuen Umfrage zufolge ebenfalls miserabel. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist von Hilfslieferungen abhängig. Die Polizei gilt als brutal. Menschen klagen über Folter, Denunziation, herausgeprügelte Geständnisse. Die Erpressung von Bestechungsgeldern durch Beamte und Vetternwirtschaft in den Staats-und Sicherheitsorganen der „Donezker Volksrepublik“ (DVR) haben ebenfalls nicht zur Steigerung des Ansehens beigetragen.

Somit hält sich auch die Begeisterung der Donezker für den DVR-Präsidenten Alexander Sachartschenko in engen Grenzen. Gerade einmal 25 Prozent der Befragten einer für den „Verband der DVR-Unternehmer“ organisierten internen Umfrage bewerten sein Handeln als positiv, 36 Prozent hingegen als schlecht. Das steht in krassem Gegensatz zu dem vor einem Jahr offiziell publizierten Zustimmungswerten von 81 Prozent. Das Vertrauen in die Obrigkeit ist generell gering. 68 Prozent der Menschen geben an, niemandem zu vertrauen.
Das größte Problem für die Rebellenführer ist allerdings die den Menschen fehlende Perspektive. Weniger als ein Prozent der Bevölkerung hat ein klares Zukunftsbild vor Augen. Zwar wollen die meisten sich nicht wieder der Ukraine anschließen (gerade einmal 15 Prozent), aber das neue Staatsgebilde DVR ist bei den Menschen aber genauso unbeliebt (20 Prozent Zustimmung).

Somit verstärken sich radikale Tendenzen in der DVR. Insgesamt ist der Anteil der Menschen, die eine Verschärfung der Auseinandersetzung wollen, mit sieben Prozent zwar gering. Die Gefahr besteht allerdings darin, dass es sich dabei vornehmlich um Rebellenkämpfer mit Kampferfahrung handelt, denen ohne Angriffsbefehl langweilig ist.

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