Generalstreik auf Ägäisinsel Lesbos ruft nach Hilfe

Rund 8400 Flüchtlinge hausen auf der Insel Lesbos zusammengepfercht in Unterkünften, die nur Platz für 3244 Menschen bieten. Jetzt machen die Inselbewohner mit einem Generalstreik auf die dramatische Lage aufmerksam.

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Athen „Niemand hört uns zu“, klagt Spyros Galinos. Wieder und wieder habe er an die Regierung in Athen appelliert, endlich zu handeln, sagte der Bürgermeister der griechischen Ägäisinsel Lesbos. Aber das Chaos in den Flüchtlingslagern werde jeden Tag schlimmer. Für diesen Montag hat der Kommunalpolitiker zu einem Generalstreik aufgerufen. Alle Behörden, Betriebe und Geschäfte sollen geschlossen bleiben. So hofft Galinos, die Politiker im fernen Athen endlich zum Handeln zu bewegen.

Rund 32.000 Bewohner hat Lesbos. Sie beherbergen auf ihrer Insel fast 8400 Kriegsflüchtlinge und Migranten – unter menschenunwürdigen Bedingungen. Das Auffanglager Moria, in dem die Ankömmlinge registriert werden, hat eine Kapazität von 2330 Bewohnern; tatsächlich sind hier aber fast 6500 Menschen untergebracht. Rund 40 Prozent von ihnen sind Kinder. Außerdem leben in dem Lager mehrere hundert unbegleitete Minderjährige. Mehr als 1000 Flüchtlinge, unter ihnen hunderte kleine Kinder, hausen in Campingzelten in der Umgebung, weil sie keine Unterkunft im Lager finden.

Ganze Familien teilen sich Zelte, die für zwei Personen bemessen sind und weder vor Nässe noch Kälte ausreichenden Schutz bieten. Es fehlt an allem: Die Menschen frieren und sind durchnässt, sie haben keine frische Kleidung, es gibt nicht genug Waschmöglichkeiten, die hygienischen Zustände sind desaströs. Menschen wärmen sich an Lagerfeuern. „Die Situation ist katastrophal“, sagt Bürgermeister Galinos.

Lesbos liegt nur etwa zehn Kilometer vor der türkischen Küste. Gemeinsam mit der Nachbarinsel Chios und dem weiter südlich gelegenen Samos, ist Lesbos das beliebteste Anlaufziel für die Schleuser, die Menschen in Schlauchbooten aus der Türkei nach Griechenland schicken. Trotz der relativ kurzen Entfernung ist die Überfahrt in den überladenen Booten lebensgefährlich – gerade jetzt, wo die Herbststürme eingesetzt haben. Aber die Verzweiflung der Menschen ist größer als ihre Angst.

Sie wollen nach Europa, vor allem nach Deutschland. Griechenland ist nur das Einfallstor. Aber wer auf den Inseln an Land geht, ist noch lange nicht in Europa angekommen, sondern sitzt zunächst einmal in der Falle. Nach den Regeln des Flüchtlingsabkommens, dass die Europäische Union im Frühjahr 2016 mit der Türkei aushandelte, müssen die Neuankömmlinge auf den Inseln bleiben, bis über ihre Asylanträge entschieden ist. Wer abgelehnt wird, muss in die Türkei zurück. Nur wer Asyl erhält, darf aufs griechische Festland weiterreisen. Soweit die Theorie.

Die Praxis: Weil sich die Asylverfahren endlos hinziehen, warten manche Antragsteller seit mehr als einem Jahr auf einen Bescheid. Auch die Rückführungen funktionieren nicht. Nach offiziellen griechischen Angaben wurden bisher aufgrund des Flüchtlingsabkommens lediglich 1443 Menschen in die Türkei zurückgeschickt - die meisten auf eigenen Wunsch, weil sie in Griechenland keine Aussicht auf Asyl hatten.

Nach Angaben des griechischen Innenministeriums vom Sonntag harren aktuell 15.390 Flüchtlinge und Migranten auf den Inseln aus. Allein auf Lesbos, Chios und Samos waren es 13.224. Die Unterkünfte auf den drei Inseln haben aber nur eine Kapazität von 5285 Plätzen.


Die Stimmung der Einwohner kippt

In Lesbos campieren Migranten nun wieder, wie auf dem Höhepunkt der Krise im Herbst 2015, auf dem Platz der Inselhauptstadt. Damals fand die Hilfsbereitschaft, mit der die Leute von Lesbos den Flüchtlingen begegneten, international große Anerkennung. Eine 85-jährige Oma und ein 40 Jahre alter Fischer aus Lesbos wurden 2016 sogar für den Friedensnobelpreis nominiert, stellvertretend für die Inselbevölkerung. Aber inzwischen ist die Stimmung gekippt. In den überfüllten Lagern entlädt sich die Frustration der Menschen immer häufiger in Gewaltausbrüchen. Geschäftsleute und Wohnungsbesitzer klagen über zunehmende Einbrüche. „Die Bevölkerung hat Angst“, sagt Bürgermeister Galinos. Auch Dimitris Alexiou von der örtlichen Polizeigewerkschaft bestätigt, dass die Bürger inzwischen um ihre Sicherheit besorgt seien. Die Polizei sei fast ausschließlich mit der Flüchtlingssituation beschäftigt und könne ihre regulären Aufgaben kaum mehr wahrnehmen, kritisierte der Gewerkschafter in der Zeitung „Kathimerini“.

Bürgermeister Galinos fordert, Flüchtlinge und Migranten aufs Festland umzusiedeln, um die Lager auf der Insel zu entlasten. Aber Migrationsminister Giannis Mouzalas verweist auf den EU-Flüchtlingspakt, der das nicht zulasse, solange die Asylverfahren nicht abgeschlossen sind. Dafür wiederum fehle es an Personal, das die EU-Staaten zugesagt, aber nicht entsandt hätten. So schiebt einer dem anderen die Schuld an der Misere zu. Mouzalas appelliert an die Hoteliers auf Lesbos, Flüchtlinge aufzunehmen. Aber die weigern sich. Sie fürchten, dass sie dann die nächste Touristensaison komplett abschreiben müssen.


Auch die Uno-Flüchtlingsagentur UNHCR kritisiert die katastrophalen Zustände auf den griechischen Inseln. Der Griechenland-Beauftragte der Organisation, Philippe Leclerc, sieht die humanitären Standards Europas auf den Inseln nicht gewährleistet, das Leben vieler Flüchtlinge sei gefährdet. Ende Oktober wandten sich 19 griechische und internationale Hilfsorganisationen in einem gemeinsamen Brandbrief an Ministerpräsident Alexis Tsipras, um auf die menschenunwürdigen Verhältnisse hinzuweisen.

Aber Migrationsminister Mouzalas sagt, ihm seien wegen des Flüchtlingsabkommens die Hände gebunden. Nur in Einzelfällen lässt er Flüchtlinge aufs Festland: Kinder, Kranke und schwangere Frauen. Aber immer mehr Menschen kommen über die Ägäis.
Kritiker werfen den griechischen Behörden und der EU vor, sie duldeten die schlimmen Zustände in den Lagern, um weitere Flüchtlinge und Migranten davon abzuhalten, nach Griechenland zu kommen. Barbara Lochbihler, Europa-Abgeordnete der Grünen und frühere Generalsekretärin von Amnesty International, äußerte jetzt nach einem Besuch auf Lesbos den Verdacht, Politiker und Behörden wollten „auf jeden Fall vermeiden, dass Flüchtlinge kommunizieren, sie würden gut behandelt“.

Sollte es eine solche Abschreckungsstrategie geben, scheint sie allerdings nicht aufzugehen. Denn die Zahl der Neuankömmlinge, die im Frühjahr 2016 nach der Schließung der Balkanroute und dem Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens stark zurückgegangen war, steigt wieder. Im Oktober kamen nach Angaben von UNHCR 4134 Menschen über die Ägäis zu den griechischen Inseln, gegenüber 2970 im gleichen Monat des Vorjahrs. In den ersten beiden Novemberwochen wurden bereits 2055 Ankömmlinge gezählt, davon allein 1310 auf Lesbos.

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