Russische Soldaten sind nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko in die Ukraine gebracht worden. Dies teilte Poroschenko in einer Fernsehansprache mit. Da hatte er bereits eine Krisensitzung des nationalen Sicherheitsrats einberufen, um über die nächsten Schritte zu beraten. Einen Staatsbesuch in der Türkei sagte Poroschenko. Am Abend will der UN-Sicherheitsrat über die Lage in der Ukraine beraten.
Der nationale Sicherheitsrat der Ukraine teilte über Twitter mit, bei den Kämpfen in der Ostukraine habe das russische Militär die Kontrolle über den Grenzort Nowoasowsk übernommen. Die ukrainischen Soldaten hätten sich aus der Ortschaft zurückgezogen, um ihr Leben zu retten. Die Separatisten würden zusammen mit russischen Truppen ihre Gegenoffensive im Südosten des Landes vorantreiben. Die ukrainische Armee konzentriere sich in der Region daher nun auf die Verteidigung der Stadt Mariupol.
Beobachter sehen die Lage vor allem für die ukrainische Armee dramatisch. Die prorussischen Separatisten erzielen seit Beginn ihrer Gegenoffensive massive Geländegewinne, heißt es. Etwa 300 Kilometer der russisch-ukrainischen Grenze von Lugansk bis Nowoasowsk stehen vermutlich unter ihrer Kontrolle. Auch bei Lugansk und Donezk drängen sie die Armee zurück. Tausende Soldaten sollen eingekesselt sein. In Kiew fordern Demonstranten bereits offen den Rücktritt von Verteidigungsminister Waleri Geletej. Es wäre der dritte abgelöste Ressortchef seit dem Regierungswechsel im Februar.
Von einer "zweiten Front" im verlustreichen Kampf der Armee gegen moskautreue Separatisten ist die Rede. Russland nimmt nach Darstellung der Nato mit mehr als 1000 eigenen Soldaten und schwerem Kriegsgerät an den Kämpfen in der Ostukraine teil. Das Militärbündnis legte am Donnerstag Satellitenbilder vor, auf denen unter anderem Armee-Konvois, Panzer und Artillerie zu sehen sein sollen.
Der niederländische Nato-General Nico Tak sprach von einem russischen "Vorstoß", nicht von einer Invasion. "Sie unterstützen die Separatisten, kämpfen gemeinsam mit ihnen", erklärte er. Seit Montag sei ein neuer russischer Vorstoß nahe Nowoasowsk in Gange. "Für die ukrainischen Streitkräfte ist das praktisch eine zweite Front", sagte Tak. "Das ist eine äußerst effektive Art, den Druck auf die Separatisten zu verringern." Russland wolle offenbar eine Niederlage der prorussischen Rebellen im Osten des Nachbarlandes nicht akzeptieren. "Es wird vermutlich alles Notwendige tun, um eine solche Niederlage zu verhindern."
Doch der Kreml lässt Diplomaten und Abgeordnete den vermeintlichen Einmarsch am Asowschen Meer als "Lüge" dementieren. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums sprach von einer Ente. "Wir müssen die ausländischen Autoren und ihre wenigen Unterstützer in Russland enttäuschen", sagte er. Die Inhalte hätten "keinen Bezug zur Realität". Weder Präsident Wladimir Putin noch Außenminister Sergej Lawrow äußern sich bislang. Schon mehrfach hatte die Führung in Kiew von russischen Truppen gesprochen, aber nie Beweise vorgelegt.
Separatisten bestätigen russische Soldaten
Als zweifelsfrei gilt dennoch, dass russische Soldaten in der Ukraine mitkämpfen. Dies räumen sogar die Aufständischen ein. Insgesamt "3000 bis 4000" Russen hätten in der Ukraine zu den Waffen gegriffen, sagt Separatistenführer Andrej Sachartschenko. Er spricht von ehemaligen russischen Berufssoldaten oder regulären russischen Soldaten, die „ihren Urlaub an der Front verbringen“ würden. „Sie kämpfen mit uns, weil sie dies als ihre Pflicht verstehen“, behauptet Sachartschenko. Dass dies ohne Duldung des Kremls geschehen könnte, halten selbst Experten in Moskau für unwahrscheinlich.
Der Streit um humanitäre Hilfe
Die Menschen in der umkämpften Ostukraine benötigen dringend Hilfsgüter. Seit Tagen streiten Moskau und Kiew, wie Lastwagenkonvois die Betroffenen erreichen können.
Kremlchef Wladimir Putin kündigt russische Hilfe an. Ein Konvoi soll in Abstimmung mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) organisiert werden.
In Russland werden laut Staatsfernsehen etwa 280 Lastwagen mit rund 2000 Tonnen Nahrungsmitteln, Medikamenten und anderen Gütern beladen. Beim Start ist unklar, ob der Transport mit Kiew abgestimmt ist. Der Vizechef der ukrainischen Präsidialverwaltung, Waleri Tschaly, sagt, man werde keinen rein russischen Konvoi auf ukrainisches Staatsgebiet lassen. Die Regierung in Kiew befürchtet, dass der Kreml unter dem Deckmantel einer Hilfsaktion Waffen für Separatisten einschmuggeln könnte. Moskau weist dies zurück.
In Kiew bekräftigt Ministerpräsident Arseni Jazenjuk, nur unter IKRK-Federführung werde der Konvoi ins Land gelassen. Laut Innenminister Arsen Awakow dürfen die Lastwagen nicht wie zunächst geplant durch das Gebiet Charkow fahren. Erstmals kündigt auch die Regierung in Kiew Unterstützung für die notleidenden Menschen an.
Der russische Konvoi steht vor der Grenze im Gebiet Rostow. Von dort können die Lastwagen direkt in ein von Separatisten kontrolliertes Gebiet einfahren. Die ukrainische Regierung startet Fahrzeuge mit eigenen Hilfsgütern. Insgesamt will Kiew mehr als 70 Lastwagen mit rund 800 Tonnen Hilfsgütern ins Krisengebiet schicken und dort dem Roten Kreuz übergeben. Erste ukrainische Transporter mit Medikamenten und Lebensmitteln erreichen am Abend einen Sammelpunkt nördlich von Lugansk. Ob der russische Konvoi die Grenze passieren darf, ist unklar. Er hängt wegen mangelnder Absprachen zwischen Moskau, Kiew und dem Roten Kreuz fest.
Moskau und Kiew einigen sich. Der russische Konvoi darf über die Grenze, wenn seine Ladung vom Roten Kreuz kontrolliert und formell übernommen wird. Laut Pentagon hat Moskau Washington versichert, der Konvoi sei kein Vorwand für militärisches Eingreifen. Berichte über einen angeblichen russischen Armeekonvoi auf ukrainischem Gebiet sorgen für Aufregung. Der Westen wirft Russland Provokation vor. Moskau weist die Vorwürfe zurück.
Separatistenführer Andrej Sachartschenko spricht von Verstärkung - unter anderem „1200 in Russland ausgebildete Kämpfer“. Der Kreml dementiert aber später erneut jede Unterstützung. Der Hilfskonvoi aus Moskau steht weiter vor der ukrainischen Grenze. Russland fordert für die Verteilung der Güter durch das Rote Kreuz eine Feuerpause. Die Lebensmittel sollen vor allem Lugansk zu Gute kommen - in der Separatistenhochburg leben rund 200 000 Bewohner ohne Versorgung. Eine baldige Waffenruhe ist aber nicht in Sicht.
Im Osten nichts Neues - das Rote Kreuz wartet weiter auf Sicherheitsgarantien, sonst will die Organisation den Konvoi nicht in die Kampfzone führen. Die Separatisten schießen ein Armeeflugzeug ab, während der ukrainische Außenminister Pawel Klimkin vom Westen Waffenhilfe erbittet. Alle Augen richten sich auf Berlin: Ein Treffen von Klimkin, seinem deutschen Kollegen Frank-Walter Steinmeier sowie Sergej Lawrow aus Russland und dem Franzosen Laurent Fabius soll dort am Abend zur Entspannung der Lage beitragen.
Poroschenkos Gegner werfen dem Staatschef vor, die jetzige Mitteilung vom russischen Einmarsch auch aus taktischen Erwägungen gemacht zu haben. Am Donnerstag begann offiziell der Wahlkampf vor der Parlamentswahl am 26. Oktober, und Poroschenko braucht Stimmen aus dem antirussischen Lager. An diesem Freitag soll der Internationale Währungsfonds (IWF) über neues Geld für das nahezu bankrotte Land entscheiden. Am Samstag reist Poroschenko zu den EU-Spitzen nach Brüssel, in der kommenden Woche tagt die Nato in Wales. Dies sei eine gute Gelegenheit, jetzt die Aufmerksamkeit auf die Ukraine zu lenken.
Die russische Führung habe "keinerlei Interesse" an einer Invasion in der Ostukraine, sagte der russische OSZE-Vertreter Andrej Kelin laut Nachrichtenagentur APA am Donnerstag in Wien. „Wir haben ganz klar gesagt, dass Russland mit Ausnahme von zehn Grenzsoldaten keine Truppen in der Ostukraine hat.“ Zu den aktuellen Berichten könne er nur sagen, dass Russland nicht an einer Entsendung von Truppen interessiert sei. Die westlichen Bedenken entbehrten jeder Grundlage. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat Russland einen Einmarsch in sein Land vorgeworfen.
Die Spannungen in der Ukraine haben die Finanzmärkte am Donnerstag in ihren Bann geschlagen. Der Dax schloss mit 9362,56 Punkten 1,1 Prozent niedriger, der EuroStoxx50 verlor ein Prozent. "Der Ukraine-Konflikt ist derzeit ganz schwer zu fassen", sagte Robert Halver, Kapitalmarktanalyst bei der Baader Bank. Das zerre an den Nerven. Die konjunkturellen Folgen einer militärischen Eskalation könnten auch durch offene Geldschleusen der Europäischen Zentralbank kaum aufgefangen werden. An der Wall Street notierten der Dow-Jones - und der S&P -Index zum Handelsschluss in Europa 0,3 beziehungsweise 0,2 Prozent leichter.
Die Nervosität trieb viele Anleger in die als sicher geltenden Bundesanleihen, was den Bund-Future um bis zu 53 Ticks auf ein Rekordhoch von 151,83 Punkten hievte. Entsprechend sackte die Rendite der dem Terminkontrakt zugrunde liegenden zehnjährigen Bundesanleihe auf ein Allzeittief von 0,867 Prozent ab. Auch die Devisen-Anleger gingen auf Nummer sicher und stießen den Euro ab. Die Gemeinschaftswährung sank auf ein Tagestief von 1,3160 Dollar ab - ein Minus von fast einem halben US-Cent.
Die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihen sackte auf ein Rekordtief von 0,89 Prozent ab. Die Aufständischen in der Ostukraine erhalten eigenen Angaben zufolge Unterstützung aus Russland für ihren Kampf gegen die Armee. „Wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass es unter uns viele Russen gibt, ohne deren Hilfe wir es sehr schwer hätten“, sagte Separatistenführer Andrej Sachartschenko am Donnerstag dem russischen Fernsehsender Rossija-24. In unseren Reihen hat es etwa 3000 bis 4000 gegeben. Viele sind heimgefahren. Viel mehr sind aber geblieben. Leider gab es auch Tote“, sagte Sachartschenko. Bei den Russen handele es sich ausschließlich um Freiwillige. Moskau hat Vorwürfe einer gezielten Militärhilfe der Aufständischen stets zurückgewiesen.
Kurz bevor Poroschenko seine dramatische Mitteilung macht, gibt der Kreml eine andere Erklärung heraus: Zwar sei der Krisengipfel in Minsk am vergangenen Dienstag recht ergebnislos verlaufen, Dialog sei aber wichtig. Putin und Poroschenko sollten sich wieder treffen - „möglichst bald“. Die Europäische Union will hingegen nach der Verschärfung der Ukraine-Krise über weitere Sanktionen gegen Russland beraten. Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigte dies für das Gipfeltreffen am Samstag in Brüssel an.