Griechenland in der Krise Ein Land blutet aus

Unermüdlich versucht Premierminister Alexis Tsipras, einen Aufschwung herbeizureden. Doch Griechenland kommt einfach nicht auf die Beine. Immer mehr Menschen wandern aus – vor allem Akademiker und Facharbeiter.

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Seit Beginn der Krise 2009 hat Griechenland bereits ein Viertel seiner Wirtschaftskraft verloren.

Der Schwiegersohn entdeckte die Leiche. Kyriakos Mamidakis lag tot im Arbeitszimmer seiner Wohnung im Athener Villenvorort Dionysos. Neben dem 84-Jährigen fand man einen Revolver – Kopfschuss. Der Gerichtsmediziner stellte Selbstmord fest. Zwei Tage vor dem Suizid am vergangenen Sonntag hatte das Familienunternehmen Mamidoil-Jetoil Konkurs angemeldet.

Gemeinsam mit seinen beiden Brüdern Giorgos und Nikos hatte der Kreter aus bescheidenen Anfängen Griechenlands drittgrößte Tankstellenkette aufgebaut – bis das Unternehmen jetzt zusammenbrach. Die Firma schuldete den Banken 184 Millionen Euro und stand bei ihren Lieferanten mit 87 Millionen in der Kreide. Steuerschulden und unbezahlte Sozialversicherungsbeträge addierten sich auf weitere 3,15 Millionen. „Er wollte erhobenen Hauptes gehen“, hieß es in einer Erklärung der Familie Mamidakis.

Die Pleite des kretischen Ölbarons war ein weiteres Glied in einer immer längeren Kette von Insolvenzen im krisengeplagten Griechenland. Unverdrossen versucht zwar Ministerpräsident Alexis Tsipras bessere Zeiten herbeizureden: „Wir erleben eine Periode der Stabilität und des Aufschwungs“, erklärte Tsipras kürzlich bei einem Kongress in Athen. Aber die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Zwar kehrte Griechenland nach fünfjähriger wirtschaftlicher Talfahrt 2014 für kurze Zeit zum Wachstum zurück.

Aber seit dem Wahlsieg des Linkspopulisten Tsipras geht es wieder bergab. Im zweiten Halbjahr 2015 schrumpfte das griechische Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 1,2 Prozent, im ersten Quartal 2016 beschleunigte sich die Talfahrt auf -1,4 Prozent. Der private Verbrauch ging in den ersten drei Monaten um gut zwei Prozent zurück. Die Großhandelsumsätze fielen um 4,5 Prozent, die Exporte gingen um 14,3 Prozent, die Importe um 11,5 Prozent zurück. Das Wirtschaftsforschungsunternehmen IOBE erwartet für dieses Jahr ein Minus des BIP von einem Prozentpunkt.

Seit Beginn der Krise 2009 hat Griechenland bereits ein Viertel seiner Wirtschaftskraft verloren. Die Unternehmensumsätze gingen im gleichen Zeitraum sogar um 34 Prozent, die Gewinne um 36 Prozent zurück, berechnet der Wirtschaftsdienstleister ICAP-Group.

Die zurückgekehrte Rezession treibt immer mehr Unternehmen in die Pleite. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres haben nach Angaben von Konstantinos Kollias, des Präsidenten der griechischen Wirtschaftskammer, 15.439 griechische Unternehmen dichtgemacht – wegen Insolvenz oder weil die Inhaber keine Zukunft mehr sahen. Im April musste der Elektro-Einzelhändler Elektroniki Konkurs anmelden und seine landesweit 45 Filialen schließen. Die 1950 gegründete Firma ist nicht das einzige Traditionsunternehmen, das aufgeben musste. Zuvor hatten bereits die Papierfabrik Softex, der Gummiproduzent Contitech und die Buchhandelskette Papasotiriou Konkurs angemeldet. Jetzt steht Marinopoulos auf der Kippe, die größte Supermarktkette des Landes. Das Unternehmen schuldet 1,324 Milliarden Euro, wovon 720 Millionen auf Forderungen von Lieferanten entfallen. Hinter den Kulissen wird jetzt um eine Rettung des Unternehmens gerungen. Es geht um fast 13.000 Arbeitsplätze.


Firmen fliehen vor hohen Steuern

Vassilis Korkidis, der Präsident der griechischen Handels- und Unternehmerkonföderation ESEE, sieht in der drohenden Pleite der Supermarktkette die „Spitze eines Eisbergs“ und fürchtet eine „Kettenreaktion“, weil der Einzelhändler zahlreiche Lieferanten mit in den Untergang reißen könnte.

Verbandschef Korkidis nennt die „Überbesteuerung, die mangelnde Nachfrage, die Liquiditätsklemme und die Kapitalkontrollen“ als Hauptursachen für die Pleitewelle. Die Regierung Tsipras hat in diesem Jahr die Besteuerung der Unternehmensgewinne von 26 auf 29 Prozent heraufgesetzt. Im benachbarten Bulgarien beträgt der Steuersatz nur zehn, in Zypern 12,5 Prozent. Immer mehr Firmen fliehen vor den hohen Steuern. Fast vier von zehn griechischen Unternehmern erwägen eine Verlegung ihres Firmensitzes ins benachbarte Ausland, so eine Untersuchung der Non-Profit-Organisation Endeavor, die weltweit Unternehmen fördert.

Wettbewerbsnachteile haben die griechischen Unternehmen auch durch die Kapitalverkehrskontrollen, die Tsipras vor einem Jahr einführen musste, nachdem er mit seiner Konfrontationspolitik gegenüber den internationalen Gläubigern das Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs geführt hatte. Seither dürfen die Griechen maximal 420 Euro pro Woche von ihren Konten abhaben, Auslandsüberweisungen sind begrenzt, Export- und Import-Firmen müssen ihre Transaktionen umständlich genehmigen lassen. „Ohne Zweifel sind die Kontrollen schädlich, vor allem für kleine und mittelgroße Unternehmen, die keine Konten im Ausland haben“, räumte Griechenlands Zentralbankchef Yannis Stournaras diese Woche in einem Gespräch mit dem Handelsblatt ein. „Die Kapitalkontrollen haben einen negativen Effekt auf die Wirtschaft, aber wir tun alles, um den Schaden zu begrenzen“, sagte Stournaras.

Wachstumsimpulse könnten von den Strukturreformen und Privatisierungen kommen, die Griechenland auf Druck der Geldgeber umsetzen soll. Aber die Regierung agiert zögerlich und halbherzig. Eine Studie der griechischen Denkfabrik Inerp zeigt: Griechenland beschließt zwar Reformen, setzt sie aber in der Praxis nicht um. Von den 270 Maßnahmen, die das Land im Rahmen des dritten Rettungspakets ergreifen sollte, wurden zwar inzwischen 41 Prozent vom Parlament beschlossen. Tatsächich umgesetzt wurden aber lediglich 27 Prozent.

Eine ähnliche Taktik verfolgt die Regierung bei den Privatisierungen. Es werden zwar Verträge geschlossen, wie kürzlich über den Verkauf des Hafens von Piräus an den chinesischen Logistikkonzern Cosco oder die Vergabe von Betriebskonzessionen für 14 Regionalflughäfen an ein Konsortium unter Führung der Fraport AG. Anschließend versuchen aber Minister, die Privatisierungen mit Gesetzesänderungen und Verordnungen wieder auszuhebeln.

Nicht nur Unternehmen fliehen vor den hohen Steuern, der Liquiditätsklemme, den Kapitalkontrollen und dem investitionsfeindlichen politischen Klima ins Ausland. Auch immer mehr Griechinnen und Griechen kehren ihrem Land den Rücken, weil sie dort keine Zukunft mehr sehen. Nach einer Studie der Universität von Makedonien im nordgriechischen Thessaloniki haben zwischen 2010 und 2015 fast 140.000 Akademiker Griechenland verlassen. Auch immer mehr gut ausgebildete Facharbeiter wandern aus. Gingen in den 1960er Jahren vor allem ungelernte Arbeitskräfte ins Ausland, verliert Griechenland jetzt seine besten Talente – das Land blutet aus.

Selbst Akademiker mit erstklassigen Abschlüssen haben in Griechenland geringe Chancen auf einen Job. Hochschulabsolventen müssen mitunter jahrelang kellnern oder Pizza ausfahren, bevor sie eine Stelle finden, die ihrer Qualifikation entspricht. Die Arbeitslosenquote lag im April bei 23,3 Prozent. Von den 1,1 Millionen Arbeitssuchenden sind 74 Prozent Langzeitarbeitslose. Am stärksten betroffen sind die 30- bis 44-Jährigen. Hier tickt eine soziale Zeitbombe, die in einigen Jahrzehnten hochgehen wird. Denn die meisten dieser Langzeitarbeitslosen werden im Alter keine oder nur minimale Rentenansprüche geltend machen können.

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