Grossbritannien wählt „Das ist viel wichtiger als der Luftkrieg“

Plakate, Wahlkampfstände, Politiker mit Flyern – Fehlanzeige in London. An Englands Ostküste tobt dagegen kurz vor dem Urengang der Wahlkampf. Für einige Kandidaten geht es um alles. Sogar für einen, der im Aufwind ist.

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Der Parteichef der Liberaldemokraten, Nick Clegg (Mitte) und Energieminister Ed Davey verlassend den Grove Pub in London und schütteln öffentlichkeitswirksam Hände. Ihre Partei bangt um die Regierungsbeteiligung. Quelle: ap

London Von der Tower Bridge an der Themse entlang, vorbei am Parlament zum Buckingham-Palast: London-Touristen, die diese Route unmittelbar vor der Unterhauswahl in Großbritannien ablaufen, sehen vom Wahlkampf – nichts. Keine Plakatwände, keine Poster an Straßenlaternen, keine Stände in Parteifarben.

In Wohngebieten wie Walthamstow im Norden oder Hackney im Osten sieht es ähnlich aus. Parteibüros sind zu. Dass am Donnerstag das wohl knappste britische Wahlkampf-Rennen seit Jahrzehnten entschieden wird, ist nicht zu sehen. Dezente Plakate fordern allgemein auf, bitte wählen zu gehen.

Ortswechsel: South Thanet an der englischen Ostküste. Hier geht die UK Independence Party (Ukip) mit ihrem Spitzenkandidaten Nigel Farage (51) nicht nur geografisch ganz weit am rechten Rand auf Stimmenfang. Ukip-Plakate hängen in zahlreichen Fenstern. In regelmäßigen Abständen fahren Wahlkampf-Busse durch die Städte. Laut Umfragen stehen Farages Chancen, den konservativen Tories Sitze im Parlament abzujagen, gar nicht schlecht.

In dieser Ecke des Königreiches, die als sozial tendenziell schwächer gilt, trifft sich der Rechtspopulist und EU-Gegner Farage in Städten wie Margate und Ramsgate mit potenziellen Wählern in Pubs und fragt Leute, die er „real people“ (echte Menschen) nennt, auf der Straße: „Werden Sie mich wählen?“

Es ist ein regelrechter Triumphzug für Farage, der seinen Sitz im EU-Parlament mit einem in Westminster tauschen und dann dafür sorgen will, dass Großbritannien aus der Europäischen Union austritt. Wenn er seinen Wahlkreis nicht gewinnt, will Farage als Ukip-Parteichef zurücktreten.

Grund für den Kontrast ist das britische Wahlsystem, das nur Politiker ins Parlament einziehen lässt, die in ihrem Wahlkreis direkt gewählt werden. Für die Labour-Kandidatin im alten Londoner Arbeiterbezirk Walthamstow bedeutet das, dass sie sich zurücklehnen kann – hier wird traditionell sozialdemokratisch gewählt. In einigen Wahlkreisen gewinne seit Queen Victorias Zeiten die selbe Partei, heißt es bei der Gesellschaft für Wahlreform. Die Ur-Ur-Großmutter der heutigen Queen starb 1901.


„Ich bin wochenlang von Tür zu Tür gezogen“

Für Kandidaten wie Farage oder Simon Marcus geht es dagegen um alles. Marcus tritt für die konservativen Tories im Wahlkreis Hampstead und Kilburn im wohlhabenden Nordwesten von London an. „Ich bin wochenlang von Tür zu Tür gezogen“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. „Jeden Tag stand ich irgendwo auf der Matte“ – mit Erfolg, wie er glaubt, auch wenn die einen oder anderen „hart links außen“ ihm manchmal „nicht so richtig höflich“ entgegengetreten seien. „Aber ich war dann zurück nicht so richtig höflich.“

Marcus' Wahlkampfbüro liegt in einer schmucken Straße am Hampstead Heath, in der sich die Unterstützer von Labour und Konservativen abwechseln - den Schildern in den Gärten nach zu urteilen. In umkämpften Wahlkreisen stellen sich die Leute Schilder mit dem Konterfei ihrer Favoriten in den Vorgarten oder kleben Sticker ins Küchenfenster.

Gerade mal 42 Stimmen brachten in Hampstead und Kilburn 2010 den Labour-Sieg, es war eines der knappsten Ergebnisse überhaupt. Die Parteien konzentrieren ihre Ressourcen auf die Gegenden, in denen sie etwas erreichen können. Sie haben keine andere Wahl: „Alle Parteien sind pleite“, sagt Tony Travers von der London School of Economics.

Wenn sie sich fürs Kämpfen entscheiden, versuchen die Kandidaten, möglichst an jede Haustür einzeln zu klopfen und ihre Wähler persönlich zu überzeugen. „Bodenkrieg“ nennen sie das. Im Januar kündigte Labour an, vier Millionen Häuser abzuklappern. An diesen Haustüren sind die entscheidenden Themen nicht unbedingt Steuern und die EU, sondern auch mal Schlaglöcher oder das neue Parkhaus.

„Das ist viel wichtiger als der Luftkrieg“, sagt Professor Paul Whiteley von der Universität Essex und meint die viel diskutierten Fernsehdebatten und zahllose Interviews, die Parteigrößen den Sendern und Zeitungen geben. Nach britischer Tradition haben die Blätter inzwischen Stellung bezogen: „Es ist ein Tory“, verkündete etwa die „Sun“ und zeigte Premierminister David Cameron als „Royal Baby“. Neutralität? Ist in den Tagen vor der Wahl kaum gefragt.

Die Bilder in den Medien ähneln sich: Cameron oder Herausforderer Ed Miliband im legeren Look, umgeben von Gruppen handverlesener Unterstützer, oder staatsmännisch beim Redenhalten in Unternehmen. Die Parteichefs absolvieren vor der Wahl geradezu einen Marathon durch die „marginals“, die umkämpften Wahlkreise, um ihre Kandidaten dort zu unterstützen. Auftritte auf großen Bühnen, bei denen vom Publikum auch mal Schmährufe kommen, wagen sie aber nicht.

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