Großmachtträume Erdogan, der Eroberer?

Die Feldzüge in Syrien und dem Irak scheinen Recep Tayyip Erdogan auf den Geschmack zu bringen: Der türkische Staatschef schwelgt in Großmachtträumen. Die Nachbarn sind besorgt. Bleibt es bei neo-imperialer Rhetorik?

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Präsident Erdogan hält eine Rede. Quelle: AFP

An diesem Samstag begeht die Türkei den „Tag der Republik“. Zum 93. Mal jährt sich die Proklamierung des neuen Staates durch Mustafa Kemal Atatürk. Erdogan legte am Samstagmorgen am Mausoleum des Republikgründers einen Kranz aus weißen und roten Nelken nieder.

Tags zuvor hatten die Griechen ihren Nationalfeiertag begangen, den Ochi-Tag. Sie gedachten des 28. Oktober 1940, als der italienische Ministerpräsident Benito Mussolini Griechenland ultimativ aufforderte, vor den Achsenmächten zu kapitulieren. Der griechische Präsident Ioannis Metaxas antwortete mit einem „Ochi“, einem Nein. Die Griechen schlugen die italienischen Invasoren zurück, erst Hitlers Wehrmacht gelang es im Mai 1941, Griechenland zu besetzen.

Premierminister Alexis Tsipras besuchte am Freitag anlässlich des Nationalfeiertags die abgelegene Ägäisinsel Agios Efstratios. „Keinen Millimeter“ seines Hoheitsgebiets, „keinen Winkel“ seines Territoriums werde Griechenland aufgeben, erklärte Tsipras. Er hatte dabei nicht Albanien im Blick, über das die Italiener seinerzeit kamen, sondern die benachbarte Türkei. Deren Präsident sorgt seit Wochen mit merkwürdigen historischen Exkursen in Athen für Beunruhigung – und nicht nur dort.

Es begann damit, dass Erdogan Ende September in einer Rede vor Dorfvorstehern in Ankara auf den Vertrag von Lausanne zu sprechen kam, mit dem 1923 die Grenzen der neuen türkischen Republik gezogen wurden. Bisher sieht die offizielle türkische Geschichtsschreibung diesen Vertrag als Sieg des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Der Vertrag von Lausanne annullierte den drei Jahre zuvor ausgearbeiteten Vertrag von Sèvres, mit dem die Siegermächte des Ersten Weltkriegs das Osmanische Reich weitgehend zerschlagen wollten. Erdogan sieht es anders. „Einige haben uns getäuscht, als sie den Vertrag von Lausanne als Sieg verkauften.“ Die Türkei habe damals Inseln an Griechenland abgetreten, „die in Rufweite liegen“. Wie seinerzeit befinde sich die Türkei auch jetzt, nach dem Putschversuch vom 15. Juli, in einem Befreiungskrieg, rief Erdogan den Lokalpolitikern zu.

Seither vergeht kaum ein Tag, an dem Erdogan nicht auf das Thema zurückkommt. Die Türkei werde „bei allen Entwicklungen in der Region mitmischen“, unterstrich Erdogan am Mittwoch in einer Rede vor Kommunalpolitikern in seinem Präsidentenpalast in Ankara. „Haben wir jemals unseren Landsleuten in Bulgarien, in Griechenland, in Mazedonien, unseren Brüdern in Bosnien, Albanien und dem Kosovo den Rücken gekehrt, wenn sie in Schwierigkeiten waren?“ Erdogan versicherte zwar, die Türkei habe „nicht das Territorium irgendeines anderen Landes im Blick“. Doch er fügte hinzu: „Unsere geografischen Grenzen sind eine Sache – etwas ganz anderes sind die Grenzen in unseren Herzen. Unsere Brüder in Europa und in Afrika, vom Mittelmeer bis in die endlosen Steppen Zentralasiens sind innerhalb der Grenzen unseres Herzens.“

Die innenpolitische Zielrichtung solcher Reden ist offensichtlich: Erdogan will sich seinen Anhängern als neuer Atatürk, als ein visionärer „Vater der Türken“ präsentieren. Seit dem vergangenen Jahr schwärmt Erdogan von einer „Neuen Türkei“. Zugleich wirbt er um Sympathien im ultra-nationalistischen Lager. Dessen Unterstützung braucht er für seine geplante Verfassungsreform und die Einführung eines Präsidialsystems, das ihm als Staatschef eine noch größere Machtfülle verschaffen soll.

Aber Analysten in den Nachbarländern fragen sich, ob womöglich mehr dahinter steckt. Flankiert werden Erdogans Klagen über den „ungerechten“ Vertrag von Lausanne durch eine letzthin deutlich verstärkte Präsenz der türkischen Luftwaffe über der Ägäis. Mal fliegen die türkischen Kampfpiloten unangemeldet durch den griechischen Luftraum, mal donnern sie sogar im Tiefflug direkt über die griechischen Inseln.


Landkarten, die eine größere Türkei zeigen

Immer häufiger tauchen in türkischen Medien Landkarten auf, die eine größere Türkei zeigen. Auf diesen Skizzen reicht das türkische Territorium bis weit in den Norden Syriens und des Irak. Im Westen umfasst es zahlreiche griechische Inseln. In Nordsyrien hat Erdogan mit dem Einmarsch türkischer Truppen bereits Fakten geschaffen. Dort richtet sich die Türkei offenbar auf eine dauerhafte Präsenz ein, in Form einer mindestens 5000 Quadratkilometer großen „Terror-freien Sicherheitszone“, wie Erdogan vor einer Woche im westtürkischen Bursa ankündigte. Praktisch wird das wohl eine Annektierung dieses Gebiets bedeuten.

Im Nordirak ist die Türkei schon seit 1992 im Nordirak militärisch präsent, um die PKK in Schach zu halten, die in den dortigen Kandil-Bergen ihr Hauptquartier und Trainingslager hat. Ende 2015 verstärkte Ankara diese Truppen mit hunderten weiteren Soldaten und zwei Dutzend Kampfpanzern – in Absprache mit dem irakischen Kurdenführer Massud Barsani. Ob auch mit Billigung Bagdads, ist strittig. Heute bezeichnet die irakische Zentralregierung jedenfalls die türkischen Truppen als „Besatzer“ und fordert ihren Rückzug. Auf dem Militärstützpunkt von Baschika bei Mossul trainierten die türkischen Soldaten in den vergangenen Monaten sunnitische Milizen. Vergangene Woche griff Ankara mit Panzern und Artillerie erstmals aktiv in die Kämpfe um Mossul ein – ungeachtet der Proteste Bagdads und entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der USA.

Erdogan unterstreicht, die Türkei müsse „mit am Tisch sitzen“, wenn über die Zukunft Mossuls nach einer Befreiung vom IS entschieden werde. Er will verhindern, dass die PKK in der Region an Einfluss gewinnt oder Mossul unter die Kontrolle der vom Iran unterstützten schiitischen Milizen gerät. Nach der Befreiung dürften in Mossul nur sunnitische Araber, sunnitische Kurden und Turkmenen leben, fordert Erdogan. Die vor dem IS aus der Region geflohenen christlichen Minderheiten erwähnte der Präsident übrigens nicht. Sie sollen offenbar nicht zurückkehren dürfen.

Erdogan selbst ließ durchblicken, dass es möglicherweise um mehr geht als die Bewahrung der demografischen Strukturen. Die Provinz Mossul gehörte zum Osmanischen Reich, bis sie im Ersten Weltkrieg von den Briten besetzt und 1926 dem Irak zugeschlagen wurde. Jetzt meldet Erdogan indirekt Gebietsansprüche an: Man solle nur „den Misak-i Milli lesen, dann wird man verstehen, welche Bedeutung Mossul für uns hat“, so der Präsident. Der Misak-i Milli, der „Nationalpakt“, war das Manifest der türkischen Unabhängigkeitsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Danach gehört die Region Mossul zur Türkei, wie auch das im Vertrag von Lausanne Griechenland zugesprochene Westthrazien und die syrische Provinz Aleppo.

Seit der Niederschlagung des Putschversuchs vom 15. Juli ist Erdogan mächtiger denn je. Der damals verhängte und kürzlich um weitere drei Monate verlängerte Ausnahmezustand gibt dem Präsidenten nahezu unumschränkte Befugnisse. In den Augen seiner Anhänger hat er Heldenstatus, ist dem Staatsgründer Atatürk mehr als ebenbürtig. Anlässlich des Nationalfeiertages pries Erdogan am Samstag die „visionäre Außenpolitik“ seiner Regierung. „Wir hoffen, er behält die Bodenhaftung und lässt sich nicht zu außenpolitischen Abenteuern verführen“, sagt besorgt ein ranghoher Diplomat des griechischen Außenministeriums.

International steht die Türkei in diesen Monaten so stark in der Kritik wie zuletzt während der Generalsdiktatur in den Jahren 1980-83: Eine gegängelte Justiz, geknebelte Medien, suspendierte Bürgerrechte, Massenverhaftungen, Ausnahmezustand, Polizeiwillkür, Folter – die Liste ist lang, die Vorwürfe wiegen schwer. Aber wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sein können, zeigte Erdogans Botschaft zum „Tag der Republik“: Wegen ihrer „starken Demokratie“ und ihrer „Verbundenheit zu menschlichen Grundwerten“ sei die Türkei „eine Inspirationsquelle für ihre Region und die Welt“.

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