Grünen-Außenpolitiker zur Türkei „Erschreckendes Bild der Menschenrechtslage“

Der Grünen-Politiker Nouripour hat kein Verständnis dafür, dass der Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg Klagen von türkischen Regimegegnern nicht zulässt. „Menschlich enttäuschend“ sei das Vorgehen der Richter.

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Nach dem Putschversuch wurden mehrere tausend Menschen inhaftiert. Quelle: dpa

Berlin Der außenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagfraktion, Omid Nouripour, hat mit Unverständnis darauf reagiert, dass die Betroffenen der Verhaftungswelle in der Türkei nicht direkt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg klagen können.

So sei die am Donnerstag verkündete Entscheidung des Gerichtshofes im Fall der Beschwerde der türkischen Richterin Zeynep Mercan „vielleicht juristisch nicht zu beanstanden, doch menschlich enttäuschend“, sagte Nouripour dem Handelsblatt. „Sie darf keinesfalls als Legitimation der türkischen Politik der Säuberungen und Entlassungen verstanden werden.“

Die Klage der Richterin gegen ihre Entlassung und Verhaftung war mit der Begründung abgewiesen worden, dass sie zunächst den Rechtsweg in der Türkei ausschöpfen müsse. Nouripour bezweifelt jedoch, dass dies angesichts der gegenwärtigen Lage in dem Land möglich ist. „Die Nachrichten aus der Türkei zeichnen ein erschreckendes Bild der Menschenrechtslage, in besonderem Maße auch bezüglich der Freiheit der Justiz und der Presse“, sagte der Grünen-Politiker. „Es ist daher schwer vorstellbar, wie unter diesen Umständen eine faire Anhörung für Frau Mercan möglich sein soll.“

Der Gerichtshof befasste sich am Donnerstag zum ersten Mal mit den Ereignissen vom 15. Juli. Die betroffene Richterin hatte in ihrer Beschwerde darauf verwiesen, dass auch zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts und Anwälte, die dort arbeiteten, festgenommen und in Untersuchungshaft genommen worden waren. Das Gericht könne deshalb nicht mehr unvoreingenommen entscheiden.

Der Menschenrechtsgerichtshof sah darin jedoch keine „besonderen Umstände“, um eine Ausnahme von der Regel zu machen, dass man den Rechtsweg im Heimatland vollständig beschreiten muss, bevor man vor dem europäischen Gericht klagen kann.

Auch an der Wirksamkeit einer Beschwerde vor dem türkischen Verfassungsgericht wollten die Straßburger Richter selbst unter den derzeitigen Verhältnissen nicht zweifeln. Immerhin hätte die Klägerin trotz ihrer Befürchtung, die Verfassungsrichter könnten wegen der Festnahmen ihrer Kollegen voreingenommen sein, eine Klage zumindest einreichen können. Gegen die Straßburger Entscheidung gibt es keine Rechtsmittel. (Beschwerde-Nr. 56511/16)


„Gerichtshof verschließt Augen vor antidemokratischen Realität“

Scharfe Kritik an den Richtern äußerte auch Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion im Bundestag „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verschließt die Augen vor der antidemokratischen Realität in der Türkei“, sagte Dagdelen dem Handelsblatt. Das Nato-Mitglied sei kein Rechtsstaat mehr. Der türkische Staatschef Erdogan nutze vielmehr den gescheiterten Putschversuch für einen Umbau des Landes in eine autoritäre Präsidialdiktatur. Tausende Staatsanwälte und Richter seien entlassen und verhaftet und durch regierungsloyale Beamte ersetzt worden. Wer hier, wie das Gericht, „keine besonderen Umstände“ erkenne, „stellt sich blind und agiert verantwortungslos“.

Der Vize-Präsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), hingegen verteidigte den Gerichtshof. Das Gericht sei „chronisch überlastet“, weil die Mitgliedstaaten es nicht ausreichend mit Personal und Geld ausstatteten, sagte Lambsdorff dem Handelsblatt. Bereits vor dem aktuellen Fall seien dort Tausende Fälle anhängig gewesen, die der Gerichtshof noch bearbeiten müsse. „Unter diesen Umständen und nach seiner Satzung in Bezug auf die Ausschöpfung des nationalen Instanzenzuges ist die Entscheidung des EGMR nicht nur nicht überraschend, sie ist rechtlich einwandfrei und nicht zu beanstanden.“

Lambsdorff sagte jedoch auch: „Sollte die türkische Justiz die Bearbeitung des hier angesprochenen Falles in rechtsstaatlich nicht vertretbarer Weise verzögern, entstünde eine andere Lage, in der der Gerichtshof ausnahmsweise auch vor Ausschöpfung des Instanzenzuges angerufen werden kann.“ Der direkte Weg zum Menschenrechtsgerichtshof ohne vorherige Befassung nationaler Gerichte aber sei ausgeschlossen.

Als Konsequenz forderte Lambsdorff eine „angemessene“ Ausstattung des Gerichts durch die Mitgliedstaaten, also auch Deutschlands. „Nur dann kann man sich vorstellen, dass es in Zukunft in vergleichbaren Fällen und ausnahmsweise eine unmittelbare Befassung geben könnte“, sagte der FDP-Politiker.

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