Grünen-Chef Bütikofer „EU wird alleine stehen“

Wird eine der beiden großen Parteienfamilien am 17. Januar den neuen EU-Parlamentspräsidenten stellen? Europas Grünen-Chef Bütikofer will darauf nicht wetten. Kurz vor der Wahl gibt es von dem Deutschen eine Kampfansage.

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Der Vorsitzende der Europäischen grünen Partei (EPG) über das Jahr 2017 in der EU. Quelle: dpa

Brüssel Der Start der Brexit-Verhandlungen, ein neuer US-Präsident und Wahlen in Ländern wie Deutschland und Frankreich: Auf die EU wartet ein Jahr, das zu großen Veränderungen führen könnte. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur warnt der europäische Grünen-Chef Reinhard Bütikofer (63), die Staatengemeinschaft werde in vielen Fragen alleine stehen, wie lange nicht mehr. Zumindest bei einem Partner könnte seiner Meinung nach aber mehr Fingerspitzengefühl helfen.

Herr Bütikofer, Deutschland diskutiert nach dem Anschlag in Berlin über die Sicherheitspolitik. Wenn sie sich das als Europapolitiker aus Brüssel anschauen: Wie viel von dem, was jetzt debattiert wird, ist nur blinder Aktionismus?

Ich glaube, das Bedürfnis nach bestmöglichem Schutz vor solchen terroristischen Attacken ist berechtigt und muss ernstgenommen werden. Das ist der Ausgangspunkt, das ist die Verantwortung, die wir haben. Wir führen jetzt in Deutschland allerdings eine Diskussion, die die Franzosen, die Briten, die Spanier und Belgier schon sehr intensiv nach den Attacken dort hatten. Wir sollten sehen, wie wir von den Erfahrungen in anderen Ländern lernen können. Eine europäische Grunderfahrung lautet: Wir sind nicht gut genug dabei, über die Grenzen hinweg zu kooperieren.

Pläne für eine stärkere Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste gibt es bereits seit längerem. Erhoffen Sie sich, dass sie nach dem Anschlag in Berlin nun schneller vorangetrieben werden?

Die Evidenz, dass wir in diesem Bereich nicht gut genug sind, wird zumindest jedes Mal, wenn so etwas passiert, größer. Die italienischen Behörden wussten zum Beispiel über den Berliner Attentäter einiges, was man bei uns nicht wusste.

Belgien will Verkehrsunternehmen in Zukunft zwingen, Informationen über Reisende auf internationalen Verbindungen zu speichern – nicht nur bei Flugreisen, auch im Bahn-, Bus- und Schiffsverkehr. Ist das etwas für die ganze EU?

Man sollte sich jetzt auf einen effizienten Weg der Zusammenarbeit konzentrieren und nicht einen Haufen Geld dafür ausgeben, dass man endlos Daten über jeden unbescholtenen Bürger sammelt. Es muss darum gehen, Gefährder oder mögliche Gefährder strenger zu überwachen.

Sie halten es also nicht für vorstellbar, dass die Reisefreiheit im Schengenraum angesichts der Anschläge infrage gestellt wird?

Doch, vorstellbar ist das. Aber ich glaube, gerade weil es vorstellbar ist, werden wir es schaffen, das zu verhindern. Jetzt wo man sieht, wie die Gefahren einer politischen Welle des Nationalismus, des Chauvinismus und der Illiberalität um sich greifen, kann man besser würdigen, warum das europäische Einigungsprojekt für uns alle nicht nur ein ideeller Wert ist, sondern auch ein sehr praktischer Vorteil. Vorher hatte man Errungenschaften wie die Reisefreiheit als ganz selbstverständlich erachtet.

Zu den Rechtspopulisten in der EU zählen Marine Le Pen von der französischen Front National, der Niederländer Geert Wilders oder deutsche AfD-Politiker. Rechnen Sie auch Horst Seehofer und die CSU dazu?

Ich werde die CSU ganz gewiss nicht in eine Linie mit Herrn Wilders, Frau Le Pen oder der AfD stellen. Ich glaube, wir sollten uns in diesem Jahr auf die positive Botschaft konzentrieren, dass es keineswegs ausgemacht ist, dass diese Nationalisten, diese autoritären Kräfte gewinnen. Die Erfahrung Österreichs hat gezeigt, dass gegen den Rechtstrend gewonnen werden kann. Deswegen gehe ich nicht mit einer Niederlagenstimmung oder mit eingezogenem Kopf in dieses Jahr 2017.

Sie und die anderen Europaabgeordneten stimmen am 17. Januar darüber ab, wer Nachfolger von Martin Schulz als EU-Parlamentspräsident wird. Die beiden Kandidaten der größten Fraktionen, der italienische Christdemokrat Antonio Tajani (EVP) und der Sozialdemokrat Gianni Pittella (S&D), sind beide umstritten. Wenn Sie 1000 Euro auf einen der Kandidaten setzen müssten, welcher wäre das?

Ich würde mein Geld nicht auf Herrn Tajani setzen und ich würde mein Geld auch nicht auf Herrn Pittella setzen. Und ich würde dafür plädieren, dass man nicht so tut, als gäbe es im Parlament nur zwei Fraktionen, die das quasi unter sich ausmachen dürfen. Wenn sie mal zusammenzählen haben die vier nächstgrößeren Fraktionen – also ECR, Liberale, Linke und Grüne – zusammen mehr Abgeordnete als die Christdemokraten und auch als die Sozialdemokraten.

Die Grünen würden also vielleicht sogar einen liberalen Kandidaten wie Guy Verhofstadt unterstützen?

Wir sind mit den Linken, den Liberalen und der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR) in Gesprächen darüber, wie die Fraktionen jenseits von EVP und S&D Einfluss nehmen könnten.

Thema Außenpolitik: Welches Land wird der EU 2017 mehr Schwierigkeiten machen – die Türkei oder die USA?

Das wichtigste an der Frage ist, dass sich die EU nicht darauf verlassen kann, dass sich alle ihre Partner vor allem darüber Gedanken machen, wie sie der EU helfen können. Die EU wird 2017 in vielen Fragen in einem Maße allein stehen, wie das lange nicht der Fall war. Das heißt umgekehrt, dass es umso wichtiger sein wird, zusammenzustehen. Die EU sollte jetzt nicht in eine Phase des Selbstmitleids verfallen, sondern sich an ihre Hausaufgaben machen. Dazu gehört auch eine stärkere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Weder die Türkei, noch die USA, noch Russland, noch China, noch der Iran sind einfache Partner.

In der Türkei vergeht kaum mehr eine Woche ohne einen schweren Terroranschlag. Gleichzeitig geht der Staat massiv gegen Regierungskritiker vor. Kann die EU die Türkei im Kampf gegen den Terror unterstützen und gleichzeitig etwas dafür tun, dass sie nicht alle rechtsstaatlichen Grundsätze über Bord wirft?

Ich glaube, die Grundhaltung muss sein, soviel Bindungen und so viel Kooperation mit der Türkei zu erhalten wie möglich und so viel klare Kritik zu äußern wie nötig. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir die erste Hälfte vernachlässigen. Man kann in der Türkei nur auf Gehör hoffen, wenn man dort, wo Kooperation und praktische Solidarität angesagt sind, nichts versäumt. Nach einem Anschlag wie dem in Istanbul kann man nicht nach zwei drei warmen Worten sofort wieder zurückkehren zur Kritik an der Politik von Staatspräsident (Recep Tayyip) Erdogan.

Praktische Solidarität – was könnte das sein?

Das gleiche, was auch zwischen den Mitgliedstaaten geboten ist. Zum Beispiel praktische Zusammenarbeit im Bereich der Inneren Sicherheit. Da könnte man sich anschauen, wie man das auch mit der Türkei machen kann.

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