Gülen-Anhänger im Visier der Türkei "Erdogan hat eine Hexenjagd ausgelöst"

Die politischen Erschütterungen in der Türkei erfassen auch Deutschland. Zu spüren bekommen das vor allem die Anhänger des Erdogan-Gegners Gülen. Grünen-Chef Özdemir warnt schon vor einer „türkischer Pegida“-Bewegung.

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„Es schwappt über“ - Deutschlands Gülen-Anhänger im Visier der Türkei Quelle: dpa

Vor etwas mehr als einer Woche beschäftigte sich Ercan Karakoyun hauptsächlich mit Bildung und dem Dialog der Religionen. Doch seit Recep Tayyip Erdogan die Gülen-Bewegung zum Hauptfeind erklärt hat und ihr den gescheiterten Putsch ankreidet, belasten den deutschen Ableger des Netzwerks andere Sorgen. Die Telefone in Berlin stehen kaum noch still. Es sind zum Teil hässliche Anrufe. „Der Mob ist auch in Deutschland angekommen“, sagt Karakoyun, Vorsitzender der Stiftung Dialog und Bildung, die hierzulande zur Hizmet-Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen (75) gehört.

Hass-Mails, Schmierereien, Mobbing. In Stuttgart wurde eine Schule, die dem Netzwerk zugerechnet wird, unter Polizeischutz gestellt. Fünf Austritte von Schülern gab es direkt nach dem fehlgeschlagenen Putsch. „Wir müssen damit rechnen, dass sich weitere Schüler abmelden“, sagte Alexander Fenselau, der als Lehrer an der BIL-Schule arbeitet, der Deutschen Presse-Agentur.

„Die Gründe sind Angst vor Übergriffen, oder die Eltern des Kindes standen unter sozialem Druck von Verwandten und Freunden“, so Fenselau. Nach dem vereitelten Militärputsch hatten Anhänger der Regierungspartei AKP Einrichtungen in Würzburg, Gelsenkirchen, Reutlingen und Augsburg attackiert. „Menschen werden beschimpft, Verbände rufen zur Denunziation von Gülen-Anhängern auf.“

Das ist die Gülen-Bewegung

Özdemir warnt vor „türkischer Pegida“ in Deutschland

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir hat in diesem Zusammenhang vor radikalen türkischen Nationalisten in Deutschland gewarnt. „Es gibt leider auch eine Art türkische Pegida in Deutschland, die wir genauso behandeln müssen wie die uns bekannte“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Özdemir warf der deutschen Politik vor, dieses Problem nicht ernst genug zu nehmen. „Es ist Konsens in Deutschland, dass AfD oder Pegida am Rande der Gesellschaft stehen, und sie nicht normale Gesprächspartner sind. Aber für radikale Türken gelten diese Maßstäbe nicht.“

Wenn Pegida-Chef Lutz Bachmann einlade, gehe ein anständiger Demokrat nicht hin - und wenn, dann spreche er Klartext. „Das muss inzwischen auch für die Erdogan-Statthalter in Deutschland gelten“, verlangte Özdemir. Er kritisierte insbesondere den türkischen Moschee-Dachverband DITIB. Dieser müsse sich vom Einfluss aus der Türkei loslösen und dürfe „nicht zum verlängerten Arm der (türkischen Regierungspartei) AKP werden“.

Schlüsselstaat Türkei

„Gülen ist eine Chiffre, um alle Andersdenken in der Türkei zu verurteilen“, sagt der Hizmet-Sprecher. Auch Aleviten und Kurden seien im Visier der Behörden. „Und wer eignet sich besser als Sündenbock, als ein muslimischer Prediger, der in den USA lebt?“

Dabei stellt sich das Gülen-Netzwerk als globale Gemeinschaft dar, die sich vor allem sozial engagiert. In Deutschland ist die Bewegung mit 150 Nachhilfevereinen, 30 Schulen und 15 interreligiösen Dialogvereinen aktiv. „Das sind Menschen, die hier aufgewachsen sind, hier studieren und sich gesellschaftlich engagieren“, sagt Karakoyun. In Berlin ist das etwa ein Gymnasium in Spandau und das „House of One“, ein Projekt für ein Mehrreligionen-Haus im Zentrum der Stadt, das gerade eine Millionenförderung vom Bund erhalten hat.

Politische Erschütterungen in Berlin spürbar

Hizmet bilde „die neue entstehende deutsch-türkische Mittelschicht ab: Hier geboren, hier aufgewachsen, studiert. Kleines Unternehmen gegründet und erfolgreich integriert“, beschreibt Karakoyun den typischen Gülen-Anhänger. Statt Moscheen zu bauen, setze sich der 1941 in Erzurum geborene Iman und frühere Erdogan-Mitstreiter für Bildung ein.

Das Modell hat Gülen von der Türkei in alle Welt exportiert. Der Historiker Nikolaus Brauns sieht dahinter ein strategisches Interesse. Junge Muslime sollen sich moderne Wissenschaft aneignen, „um der Türkei in einer globalisierten Welt eine neue Rolle als islamische Vormacht zu ermöglichen“, schreibt Brauns, der auch wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linksfraktion im Bundestag ist, in einem Beitrag für „Zeit Online“.

Vorwurf der Gehirnwäsche

Gülen, so Brauns, habe erkannt, dass der von Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) gegründete säkulare Staat ein zu mächtiger Gegner sei, um ihn frontal anzugreifen. „Stattdessen setzte er fortan auf die Unterwanderung des Staatsapparates - ein islamischer Marsch durch die Institutionen“.

„Unsinn“, nennt Karakoyun solche Mutmaßungen. „Wir fördern seit 40 Jahren Bildung. Das heißt, es gibt viele gut ausgebildete Menschen, die für den Staat tätig werden. Das ist keine Unterwanderung, das ist Normalität.“

Auch den Vorwurf der Gehirnwäsche junger Anhänger, etwa über die Nachhilfevereine, weist Karakoyun von sich. „Fethullah Gülen spricht in seinen Predigten und Werken zu den Menschen. Immer hat er die Rolle des Individuums und der Meinungsfreiheit unterstrichen. Hizmet ist eine Bewegung, in der jeder so denken darf, wie er will. Wir legen höchsten Wert auf Spiritualität und kritisches Denken.“ Und vor allem Frauen seien bei Hizmet aktiv und könnten immer mehr Führungspositionen übernehmen - „was bei Moscheevereinen ja nicht der Fall ist“.

Wie die Gülen-Leute bekommt auch Seyran Ates in Berlin die politischen Erschütterungen fernab zu spüren. „Ich werde auf Facebook als Hure, Schlampe und Gülen-Anhängerin beschimpft“, sagt die deutsch-türkische Menscherechtsanwältin und Islamkritikern.

"Es schwappt über"

Erdogan habe eine Hexenjagd ausgelöst. „Es schwappt nach Deutschland über.“ Sie werde vorläufig nicht mehr nach Istanbul reisen. Ihre kritischen Facebook-Posts seien inzwischen den türkischen Behörden gemeldet worden.

Erdogan müsse zuerst Beweise für eine Beteiligung des in den USA lebenden Imams am Putsch vorlegen, sagt Ates und stellt klar: „Ich bin keine Gülen-Anhängerin.“ Die Juristin sieht den Putsch vielmehr als Teil eines Machtkampfs zwischen Erdogan und seinem früheren Weggefährten.

Nicht gerade beruhigend dürfte dabei die jüngste Freitagspredigt der von Ankara gesteuerten „Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion“ (DITIB) mit Sitz in Köln klingen. Jene, die seit vierzig Jahren „Aufwiegelei, Aufruhr und Feindschaft“ säten, hätten dem Volk „sehr großen Schaden“ zugefügt und Verrat begangen. Die Gülen-Leute und die anderen Erdogan-Kritiker dürften die Botschaft verstanden haben.

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