Vor etwas mehr als einer Woche beschäftigte sich Ercan Karakoyun hauptsächlich mit Bildung und dem Dialog der Religionen. Doch seit Recep Tayyip Erdogan die Gülen-Bewegung zum Hauptfeind erklärt hat und ihr den gescheiterten Putsch ankreidet, belasten den deutschen Ableger des Netzwerks andere Sorgen. Die Telefone in Berlin stehen kaum noch still. Es sind zum Teil hässliche Anrufe. „Der Mob ist auch in Deutschland angekommen“, sagt Karakoyun, Vorsitzender der Stiftung Dialog und Bildung, die hierzulande zur Hizmet-Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen (75) gehört.
Hass-Mails, Schmierereien, Mobbing. In Stuttgart wurde eine Schule, die dem Netzwerk zugerechnet wird, unter Polizeischutz gestellt. Fünf Austritte von Schülern gab es direkt nach dem fehlgeschlagenen Putsch. „Wir müssen damit rechnen, dass sich weitere Schüler abmelden“, sagte Alexander Fenselau, der als Lehrer an der BIL-Schule arbeitet, der Deutschen Presse-Agentur.
„Die Gründe sind Angst vor Übergriffen, oder die Eltern des Kindes standen unter sozialem Druck von Verwandten und Freunden“, so Fenselau. Nach dem vereitelten Militärputsch hatten Anhänger der Regierungspartei AKP Einrichtungen in Würzburg, Gelsenkirchen, Reutlingen und Augsburg attackiert. „Menschen werden beschimpft, Verbände rufen zur Denunziation von Gülen-Anhängern auf.“
Das ist die Gülen-Bewegung
Der heute 75-jährige Prediger Fethullah Gülen hat sich ursprünglich als einflussreicher islamischer Prediger einen Namen gemacht. Bis in die Achtzigerjahre hinein wirkte er als Iman in verschiedenen türkischen Städten. Mit seinen Predigten und Büchern über den Islam, über Bildungs- und Wissenschaftsfragen soziale Gerechtigkeit und interreligiösen Dialog begeisterte Gülen viele Gläubige. Seit 1999 lebt der gesundheitlich angeschlagene Prediger im US-Staat Pennsylvania. Er war nach einer Anklage wegen staatsgefährdender Umtriebe emigriert.
Gülen steht hinter der Bewegung Hizmet („Dienst“). Hizmet sieht einen ihrer Schwerpunkte in der Verbesserung von Bildungschancen.
Für die meisten innenpolitischen Krisen macht Präsident Recep Tayyip Erdogan seit längerem die mächtige Bewegung Gülens mitverantwortlich. Erdogan wirft seinem einstigen Verbündeten vor, einen Staat im Staate errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. Die Regierung geht massiv gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor, die sie vor allem bei der Polizei und in der Justiz vermutet. Die Gülen-Bewegung wurde zur Terrrororganisation erklärt, viele ihrer führende Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Türkei.
Özdemir warnt vor „türkischer Pegida“ in Deutschland
Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir hat in diesem Zusammenhang vor radikalen türkischen Nationalisten in Deutschland gewarnt. „Es gibt leider auch eine Art türkische Pegida in Deutschland, die wir genauso behandeln müssen wie die uns bekannte“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Özdemir warf der deutschen Politik vor, dieses Problem nicht ernst genug zu nehmen. „Es ist Konsens in Deutschland, dass AfD oder Pegida am Rande der Gesellschaft stehen, und sie nicht normale Gesprächspartner sind. Aber für radikale Türken gelten diese Maßstäbe nicht.“
Wenn Pegida-Chef Lutz Bachmann einlade, gehe ein anständiger Demokrat nicht hin - und wenn, dann spreche er Klartext. „Das muss inzwischen auch für die Erdogan-Statthalter in Deutschland gelten“, verlangte Özdemir. Er kritisierte insbesondere den türkischen Moschee-Dachverband DITIB. Dieser müsse sich vom Einfluss aus der Türkei loslösen und dürfe „nicht zum verlängerten Arm der (türkischen Regierungspartei) AKP werden“.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
„Gülen ist eine Chiffre, um alle Andersdenken in der Türkei zu verurteilen“, sagt der Hizmet-Sprecher. Auch Aleviten und Kurden seien im Visier der Behörden. „Und wer eignet sich besser als Sündenbock, als ein muslimischer Prediger, der in den USA lebt?“
Dabei stellt sich das Gülen-Netzwerk als globale Gemeinschaft dar, die sich vor allem sozial engagiert. In Deutschland ist die Bewegung mit 150 Nachhilfevereinen, 30 Schulen und 15 interreligiösen Dialogvereinen aktiv. „Das sind Menschen, die hier aufgewachsen sind, hier studieren und sich gesellschaftlich engagieren“, sagt Karakoyun. In Berlin ist das etwa ein Gymnasium in Spandau und das „House of One“, ein Projekt für ein Mehrreligionen-Haus im Zentrum der Stadt, das gerade eine Millionenförderung vom Bund erhalten hat.