Hungerkrise in Äthiopien Die vergebliche Hoffnung auf zwei Mahlzeiten pro Tag

Rinder sind verendet, die Vorräte verzehrt, die Brunnen versiegt. Millionen Äthiopier hungern. Die Vereinten Nationen schlagen Alarm. Doch die Regierung verschweigt das Problem lieber.

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Äthiopien kämpft mit einer Hungerkrise. Quelle: dpa

Sekota In grünen Plastiksandalen steigt Chekol Ayalew morgens zwei Stunden durch eine karge, felsige Landschaft hinab bis zur nächsten Trinkwasserquelle. Dort steht sie eine Stunde an, bevor sie ihren gelben 20-Liter Kanister füllen kann. Sie schnallt sich den Kanister auf den Rücken und beginnt in der Hitze Nordäthiopiens den schweißtreibenden Aufstieg zurück. An vielen Tagen schickt die Mutter von neun Kindern eine ihrer kleinen Töchter. Die 20 Liter Trinkwasser müssen für die ganze Familie reichen. „Wer Wasser hat, ist ein glücklicher Mensch“, sagt Ayalew.

In der schlimmsten Dürre seit drei Jahrzehnten fehlt Millionen Menschen in Äthiopien derzeit das Allernötigste: Essen und Trinkwasser, das nicht krank macht. In Teilen des ostafrikanischen Landes hat es nun seit fast zwei Jahren nicht mehr richtig geregnet: Brunnen und Bäche sind versiegt, Rinder und Esel verendet, die Menschen haben alle Reserven aufgebraucht. Der Hunger ist zum Alltag geworden. „Ohne Hilfe können wir nicht mehr überleben“, sagt Ayalew.

Bei einer Fahrt durch die besonders betroffene nördliche Amhara-Region sieht man über Stunden nur brachliegende steinige Äcker. Der Wind wirbelt Staub und Erde auf, Frauen und Mädchen schleppen Wasserkanister nach Hause, Kinder treiben mit Holzstecken abgemagerte Rinder und Ziegen über die Felder. In vielen Dörfern entlang der holprigen, unbefestigten Straßen macht sich die Verzweiflung breit. Allein in Amhara sind den Vereinten Nationen zufolge 2,3 Millionen Menschen zum Überleben auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, im ganzen Land sind es mehr als zehn Millionen Menschen.

Am schlimmsten trifft es Babys und Kinder. Die kleine Saleegzer Amare zum Beispiel brachte mit drei Monaten nur 2,2 Kilogramm auf die Waage. Ein normal ernährtes gleichaltes Baby in Deutschland wiegt bis zu sechs Kilogramm. „Bei unseren anderen Kindern hatten wir keine Ernährungsprobleme. Das Land war gut und wir hatten Regen“, erzählt Ehitye Ashagre. Die 28-Jährige ist Mutter von vier Kindern. Sie ist groß, aber sie wirkt ausgemergelt; sie bringt wohl selbst nur 40 Kilogramm auf die Waage. Die Familie isst nur eine volle Mahlzeit am Tag.

„Unsere Kühe haben wir schon verkauft, um unsere Kinder durchzubringen“, sagt Ashagre. „Auch das Saatgut für dieses Jahr haben wir aus Verzweiflung schon gegessen.“ Die kleine Saleegzer brachte sie schließlich zur Gesundheitsstation im Dorf Galesod, wo das akut mangelernährte Kind eine Woche lang wieder aufgepäppelt wird. Erst dann kann der kleine Körper wieder normale Nahrung verarbeiten. Auf dem Boden des Zimmers liegt eine Matratze, darauf sitzt Ashagre mit dem Baby unter einem Moskitonetz. „Ohne eine Gesundheitsstation wie diese wäre mein Baby tot.“


Äthiopien, das „Hungerland“

Wie die kleine Saleegzer werden dieses Jahr im ganzen Land UN-Zahlen zufolge 450.000 Kinder an schwerer akuter Mangelernährung leiden. Rund 2,2 Millionen Kindern und stillenden Müttern mit leichteren Symptomen kann mit spezialisierter Zusatznahrung geholfen werden. Wenn Mangelernährung bei Kleinkindern nicht bekämpft wird, bleibt ihr Immunsystem schwach, sie bleiben körperlich und geistig zurück. Die Schäden sind irreversibel.

Äthiopien wurde Mitte der 1980er Jahre zum Synonym für Hungersnöte. Schätzungen zufolge kamen damals Hunderttausende ums Leben. Fotos von ausgemergelten, apathischen Menschen und Kindern mit Hungerbäuchen gingen um die Welt. Das weltweite Entsetzen führte unter anderem zu dem von Musiker Bob Geldof angeschobenen historischen Live Aid Konzert im Juli 1985. Auf Bühnen in Philadelphia (USA) und London traten die internationalen Topstars der damaligen Musikszene auf – insgesamt sollen mehr als 100 Millionen Euro Spendengelder eingenommen worden sein.

Die damals in Äthiopien regierende kommunistische Militärdiktatur wurde 1991 gestürzt. Seither bemüht sich die autokratische Regierung des Landes darum, das Image als „Hungerland“ abzuschütteln. Der Staat hat seitdem große Fortschritte gemacht, doch Äthiopien gehört einem UN-Index zufolge immer noch zu den 15 ärmsten Ländern der Welt. Die Regierung spricht jedoch lieber vom starken Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre – Hunger passt da nicht ins Bild. Die Berichterstattung über die Krise wird nach Kräften unterdrückt.

Die Regierung versorgt bereits acht Millionen Menschen mit Nahrungsmittelhilfe, doch jetzt sind laut UN weitere zehn Millionen Menschen hungrig. Damit ist fast jeder fünfte Äthiopier betroffen. Die Regierung ist überfordert. Experten zufolge wurde die Dürre vom globalen Klimaphänomen El Niño ausgelöst.

Genet Grodanaw aus dem Ort Mesheha versucht, ihre Familie mit dem Verkauf von örtlichem Bier über Wasser zu halten. „Wie viel wir essen können, hängt von meinen Einnahmen ab“, sagt die 20-Jährige. Ihr einjähriger Sohn Samuel ist mangelernährt. „Ich versuche zumindest, dem Baby zwei Mal am Tag zu Essen zu geben“, sagt sie mit gesenktem Kopf. Fast immer gibt es Injera, das traditionelle leicht säuerliche Fladenbrot aus Teffmehl. Fleisch gibt es in der christlich-orthodoxen Familie – wenn überhaupt – nur zu religiösen Feiertagen.

Mehr als 80 Prozent der rund 95 Millionen Äthiopier leben von der Landwirtschaft, die meisten Familien bewirtschaften weniger als einen Hektar Land. Nach knapp zwei trockenen Jahren richtet sich die Hoffnung der Menschen nun auf die ab Juli beginnende Sommer-Regenzeit „Kiremt“. Weil die meisten Familien ihr Saatgut bereits verzehrt haben, geben Hilfsorganisationen nun Getreide aus. Sollte der Regen wieder ausfallen, droht Äthiopien eine verheerende Hungersnot. Sollte es wie erhofft regnen, wird der Hunger trotzdem noch mindestens bis zur ersten Ernte im September anhalten.


„Die Kinder kriegen jede Woche Durchfall“

Doch selbst das wenige vorhandene Essen können Kinder in den Dürregebieten Äthiopiens oft nicht aufnehmen, weil unsauberes Trinkwasser sie krank gemacht hat. „Die Kinder kriegen jede Woche Durchfall“, sagt die 24-jährige Fantanesu Tilahun, die bereits vier Kinder hat. Der Trinkwasserbrunnen ist versiegt, das Wasser nehmen die Menschen inzwischen einfach aus dem nahen Fluss. Es ist rotbraun. Wie viele Menschen in dem Ort kocht Tilahun das Wasser vor dem Trinken nicht ab. Hat sie keine Möglichkeit dazu, oder weiß sie es nicht besser? Die Frage bleibt im Raum stehen. „Ich mache mir Sorgen um die Gesundheit der Kinder, aber was soll ich denn machen?“

Der Wassermangel in den Dürregebieten macht auch die Hygiene schwierig. Deswegen kommt es vermehrt zu Durchfallerkrankungen, aber auch zu Augeninfektionen, die zur Erblindung führen können. In der Amhara-Region gab es kürzlich zudem einen Ausbruch der Krätze.

In Zeiten der Dürre kann das Wasserholen Stunden dauern. Das ist zumeist die Aufgabe der Mädchen der Familie. „Immer mehr Mädchen können deswegen nicht mehr zur Schule gehen“, erklärt Edward Kibirige, der Leiter des Dürre-Hilfseinsatzes von Plan International. Ohne Schulbildung würden die Mädchen aber früher verheiratet und bekämen mehr und weniger gesunde Kinder. „Es ist ein Teufelskreis.“

Etwa eine Stunde Fahrt nordwestlich der Stadt Lalibela liegt das Dorf Takizie. Hier steht einer der Wassertanks, der von Plan in den Dürregebieten bereitgestellt wird. „Bevor es den Tank gab, mussten wir vier Stunden zum Fluss absteigen und dann wieder zurück“, sagt Habtam Adisu. „Und das Wasser dort ist nicht sauber.“

Das Wasser wird mit dem Laster angekarrt, pro Familie gibt es pro Tag maximal 40 Liter. Vor dem dem Tank liegt eine lange Reihe Kanister, jeweils mit dem Namen einer Familie versehen. Bis zu zwei Stunden kann es dauern, bis die Dorfbewohner hier Wasser bekommen. Doch das ist viel besser als die acht Stunden Fußmarsch zum Fluss und zurück. „Ich danke Gott für das Wasser“, sagt die 42-jährige Tsehay Tsega, Mutter von sechs Kindern. Wenigstens diese Sorge sei ihr genommen. „Ich kann nachts nicht schlafen, weil ich immer darüber nachdenke, was ich meinen Kindern morgen zum Essen geben kann.“

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