Ifo-Präsident Clemens Fuest sieht Brexit-Abstimmung mit Sorge

„Deutschland wäre der größte Verlierer“: Der neue Ifo-Präsident Clemens Fuest sieht den Brexit als reale Gefahr. Ein solcher Schritt könne die EU völlig verändern, so der Ökonom. Leidtragende wären deutsche Exporteure.

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„Ich sehe ein reales Risiko in dem Referendum“, sagt Fuest. Quelle: Reuters

Ifo-Präsident Clemens Fuest sieht der Volksabstimmung der Briten über einen Austritt aus der EU im Juni mit großer Sorge entgegen. „Deutschland wäre wahrscheinlich der größte Verlierer eines Brexit, abgesehen von Großbritannien selbst“, sagte der neue Ifo-Präsident der Deutschen Presse-Agentur. Großbritannien sei der drittwichtigste Exportmarkt für Deutschland, mit einem Volumen von 90 Milliarden Euro: „Ein Austritt trifft die gesamte deutsche Industrie.“ Vor allem aber würde sich Europäische Union massiv zum Nachteil Deutschlands verändern.

Großbritannien und Deutschland seien freihändlerisch orientiert. Um zum Beispiel Handelsbeschränkungen zu verhindern, sei in der EU aber eine Sperrminorität nötig. Ohne die Briten wäre es schwerer, diese Sperrminorität zu erreichen: „Das wäre ein Riesen-Nachteil“, sagte Fuest. Bei einem Austritt würde „die Attraktivität des europäischen Binnenmarktes zurückgehen. Natürlich wird sich das Gewicht der EU in der Welt deutlich verringern.“ Und ohne den Nettozahler Großbritannien würden auf Deutschland in der EU zusätzliche Milliardenlasten zukommen.

Theoretisch wäre zwar denkbar, dass die britische Wirtschaft Teil des Binnenmarktes bleibt. Aber „dann müssten die Briten ja weiterhin die meisten Regulierungen aus Brüssel übernehmen, nur könnten sie nicht einmal mehr mitreden“.

In den Umfragen bröckle die Mehrheit der EU-Befürworter unter den Briten, und die Gegner seien leidenschaftlicher und leichter zu bewegen, an die Urne zu gehen. „Deshalb sehe ich reales Risiko in dem Referendum“, sagte Fuest, der lange als Professor in Oxford gelehrt hatte und seit kurzem Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) ist.

Eine weitere zentrale Krise für die EU sieht er in Griechenland, „weil es hier um fundamentale Prinzipien der Zusammenarbeit in der Währungsunion geht“. Die griechische Regierung habe die Reformverträge zwar unterschrieben, um frisches Geld zu bekommen, aber „die Reformen werden verschleppt“, sagte Fuest.

Was die Briten an der EU stört
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

So habe Griechenland versprochen, durch Privatisierung 50 Milliarden Euro zu erlösen und mehr Dynamik in die Wirtschaft zu bekommen. Statt dessen wolle sie offenbar nur noch Staatsbetriebe für nicht einmal 10 Milliarden Euro verkaufen. Wenn Athen seine Zusagen nicht halte, aber in der Eurozone bleibe, sollte „nicht permanent noch mehr neues Geld nach Griechenland fließen“, sagte Fuest: „Wenn man das einfach laufen ließe, würden andere Länder, die große Anstrengungen unternommen und ihrer Bevölkerung viel zugemutet haben, sich fragen, warum halten wir uns eigentlich an diese Abmachungen?“

Ohne weitere europäische Zahlungen würde Athen zum Sparen gezwungen. „Vielleicht verlieren einige private Gläubiger Geld, und es könnte eng werden für einige griechische Banken. Aber es geht nicht, dass man das Land dauerhaft alimentiert“, sagte Fuest.

Einen weiteren Schuldenerlass seitens der öffentlichen Gläubiger lehnt Fuest ab. „Die Laufzeiten wurden bereits so weit gestreckt und die Zinsen so weit gesenkt, dass der Schuldendienst derzeit nicht das Hauptproblem Griechenlands ist.“

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