Indien Überfall im Namen der Regierung

Nach einer Bargeldreform steht das Land unter Schock. Der Kampf gegen Korruption und Schattenwirtschaft ist ein riskantes Experiment.

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Menschen stehen vor einer Bank in Indien Schlange Quelle: Getty Images/AFP

Es dauert kaum zwei Stunden, da bricht der Streit aus. Vor der Bankfiliale J&K in Delhis Wohnviertel Greater Kailash stauen sich drei Schlangen: eine für den Geldautomaten, zwei für die Filiale, Männer und Frauen getrennt. Bis eben standen sie alle dicht an dicht, blieben aber geduldig. Dann tritt eine Frau mit vier Bankkarten vor den Geldautomaten. „Sie dürfen nur einmal“, merkt ein Mann hinter ihr an. Die Frau will das nicht akzeptieren, setzt die zweite Karte an. Nun mischen sich auch andere Wartende ein, klagen, sie solle gehen, die Menge drängelt. Erst als ein Polizist einschreitet, ist wieder Ruhe.

So geht das nun seit mehr als einer Woche. Vor Bankfilialen drängen sich täglich Menschenmassen, um alte Geldscheine einzuzahlen oder neue aus den Automaten zu ziehen. Am 8. November hielt der indische Premierminister Narendra Modi eine Ansprache an die Nation. Im Schatten der US-Wahl verkündete er: „Brüder und Schwestern, wir haben beschlossen, dass alle 500- und 1000-Rupien-Scheine von Mitternacht an nicht mehr gültig sein werden.“ Die Noten entsprechen rund 6,80 und 13,60 Euro. Binnen Stunden zog die Regierung damit 86 Prozent des Papiergelds aus dem Verkehr. Was Modi da verkündet hatte, war nichts anderes als ein staatlicher Geld-Coup.

Die künftig wertlosen Noten sollen Bürger einzahlen oder gegen weiterhin gültige, kleinere Scheine eintauschen. Dafür setzte die Regierung eine Frist bis Ende dieses Jahres. Wessen Einlagen dann auffällig stark vom angemeldeten Einkommen abweichen, dem rückt das Finanzamt auf den Leib. Bei über 2,5 Millionen Rupien Diskrepanz – umgerechnet etwa 340.000 Euro – soll künftig eine saftige Strafe fällig werden. In den folgenden Wochen schickt die indische Zentralbank dafür neu gedruckte Scheine in Umlauf.

Indien in Zahlen

Die Geld-Revolution von oben ist der bisher drastischste Schritt der indischen Regierung im Kampf gegen grassierende Korruption und Schwarzgeld. Einer Studie von Google India und der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) zufolge werden 78 Prozent aller Transaktionen in Indien noch immer in bar abgewickelt. Im Mai erst hatte die Regierung Daten veröffentlicht, nach denen gerade einmal 3,8 Prozent der Steuerpflichtigen in Indien Einkommensteuer zahlen. Diejenigen, die bereits Steuern abführen, würdigen die Finanzämter gar mit persönlichen Zertifikaten in Bronze, Silber und Gold. Als Dank für den „Aufbau einer großen Nation“.

Experten schätzen Indiens Schattenwirtschaft auf ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts von mehr als zwei Billionen US-Dollar. Die unkontrollierten Milliardenflüsse speisen nicht nur die Korruption, sondern auch den Terrorismus, sagte Modi in seiner Ansprache. Die Bevölkerung rief er zu einem „entschiedenen Kampf“ auf.

Fakten und Hintergründe zu Indien

Vor allem aber sorgte seine überraschende Ankündigung für Panik – und anhaltendes Chaos. Noch am Abend der Ansprache wurde die Anfrage „How to convert black money into white money“ zur meistgestellten Anfrage auf Google. Juweliere wurden in den ersten Stunden nach Modis Ansprache fast überrannt. Im ganzen Land blieben Läden bis Mitternacht offen und empfingen panische Bürger, die ihre Barreserven in sichere Sachanlagen verwandeln wollten.

Bankangestellte legen Sonderschichten ein, doch den meisten Filialen geht schon nach wenigen Stunden das Geld aus. In manchen Dörfern ist auch nach Tagen noch kein Geldtransporter angekommen. Finanzminister Arun Jaitley versprach zwar, der Austausch der Noten werde innerhalb von zwei bis drei Wochen abgeschlossen sein. Viele Banker aber halten das für unrealistisch – immerhin müssen erst mehrere Hunderttausend Geldautomaten für die neuen Scheine technisch aufgerüstet werden.

Bei vielen Indern herrschen Frust und Wut. In Navghar, einer Kleinstadt im Bundesstaat Maharashtra, soll ein Mann in einer Schlange kollabiert sein. In Mumbai starb sogar ein Baby, weil das Krankenhaus angeblich die Behandlung verweigerte. Die Mutter hatte nur einen alten Schein dabei, mit dem sie hätte bezahlen können.

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