Inside Chicago

Warum Amerika so kriminell ist

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Verschiedene Gang-Viertel

Wir fahren mitten hinein in die Gang-Viertel. „Diesen Block kontrolliert eine Gang namens 'Kill Awards'“, erzählt Jeremy. „Das nächste Viertel gehört einer anderen Gang, sie nennen es G-Ville. Wenn Nachts ein Kind aus G-Ville über diese Straße hinüber zu den 'Kill Awards' läuft, wird es erschossen.“ Ein paar Meter weiter steht eine katholische Kirche. Der Pfarrer gehe seit Jahrzehnten in Familien beider Gangs ein und aus, um zu vermitteln. „An jedem Freitagnachmittag kommen sie hier zusammen, um gemeinsam für den Frieden zu beten.“ Anschließend bricht die Nacht herein und die Gang-Kriege beginnen aufs Neue.

Auf den ersten Blick ist von der Gewalt nichts zu erkennen. Wie im friedlichen Norden der Stadt wirken die Einfamilienhäuser sauber und gepflegt; auch arme Afroamerikaner haben für ein paar zehntausend Dollar auf Pump solche Fertigbuden kaufen können. Zumal es nirgendwo so billig ist wie in Englewood, dem brutalsten Polizeibezirk der Stadt. Allerdings fällt bei genauerem Hinsehen auf, dass viele Häuser leer stehen. „Seit den Achtzigerjahren hat Englewood fast die Hälfte der Bevölkerung verloren“, sagt Jeremy. Wer Kinder hat und es sich wirtschaftlich leisten kann, zieht weg aus diesem Sumpf der Kriminalität.

Kriminalität


Natürlich ist die Polizei nicht untätig, im Gegenteil. Rund 600, 700 Schutzmänner, schätzt Jeremy, patrouillieren allein in einem Problemviertel wie Englewood. Nach Feierabend fahren die Polizisten in sogenannten B-Patrols Streife: Auf Stundenbasis verdienen sich Polizisten etwas Geld dazu, die eigentliche Polizeiarbeit übernimmt der Schichtdienst. Tatsächlich vergeht kaum eine Minute, ohne dass ein Chrysler des Chicago Police Department den Weg kreuzt – trotzdem rufen viele dunkle Gestalten uns etwas hinterher, als wir bei heruntergekurbeltem Scheiben als Weiße furchtlos durch die harten Viertel fahren.

Vermutlich ist es ein Erfolg der Polizeiarbeit, dass die Kriminalität im Vergleich zu den neunziger Jahren zurückgegangen ist. Früher, erzählt Jeremy, seien sie mit hundert Bereitschaftspolizisten nach Englewood gefahren und hätten in ganzen Straßenzügen sämtliche Papiere kontrolliert. „Die Polizisten wollten Präsenz zeigen und wurde binnen kürzester Zeit zu Hassfiguren.“ Inzwischen gebe es spezialisierte Abteilungen, die die Gang-Strukturen analysieren, die Gewalttäter observieren und versuchen, Kriminalität präventiv zu verhindern.


Ein Kernproblem wird allerdings auch die Polizei nicht lösen können: Den meist Afro-Amerikanern in der „Southside“ fehlen die wirtschaftlichen Chancen. Praktisch alle Fabriken in der Gegend sind über die Jahre verschwunden, im reichen Norden mit der guten Anbindung an neue Gewerbegebiete kann sich keiner die Mieten leisten – und noch schlimmer: Chicago gilt als überaus segregierte, teils gar rassistische Stadt. Im Norden würden viele keine Farbigen aus dem Süden einstellen, denn er stünde automatisch unter Gang-Verdacht.

Solange aber die Kriminalität im Süden hoch bleibt und die Gangs ganze Viertel mit Schutzgeldern und Drogenhandel dominieren, werden dort auch keine neuen Jobs entstehen. Die Kriminalität mag sinken, aber sie wird Chicago wohl immer erhalten bleiben.

Diese Nacht bleibt übrigens relativ ruhig. Im Westen hat sich ein Kind in den Bauch geschossen. Offenbar ein Versehen. Eine Ecke weiter stirbt ein Mann an einem Kopfschuss. Vermutlich Selbstmord. Später wird in Englewood einer erschossen. Aber nur einer. Jeremy entscheidet sich dagegen, einen der Tatorte anzufahren: „Ganz schön ruhig, heute Nacht“, sagt er.

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