IS-Terror Die außergewöhnliche Flucht einer Frau

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Verkauft und immer wieder vergewaltigt

Im Februar kaufte ein eritreischer Kämpfer namens Mohamed Fisehaje. Er sagte ihr nie, wie viel er für sie bezahlen musste. Am Anfang wirkte er sanft, erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen und ihrem früheren Leben in Eritrea. "Ich war verwirrt. Ich dachte, er würde mir helfen. Vielleicht hatte er sich bei Daesch eingeschmuggelt? Vielleicht war er nicht wirklich einer von denen? Ich begann, Hoffnung zu schöpfen", berichtet Fisehaje. Stattdessen vergewaltigte er sie. Immer wieder, wochenlang.

"Niemand konnte uns je zeigen, welcher Teil des Koran es zulässt, dass uns Männer zu Sklaven machen", klagt Fisehaje. "Sie wollten uns zerstören, da war so viel Böses in ihren Herzen." Sie schmiedete Fluchtpläne, konnte aber keinen Ausweg finden. Dann verlieh ihr Besitzer sie an einen anderen Mann, einen senegalesischen Kämpfer mit dem Kriegsnamen Abu Hamsa. Er hatte seine Frau und seine drei Kinder an die Front mitgebracht. Fisehaje musste ohne Bezahlung in seiner Küche arbeiten.

Die Arbeit war erträglich, bis Abu Hamsa eines nachts eine eritreische Frau aus dem Lagerhaus mitbrachte. Er vergewaltigte sie die ganze Nacht lang. "Sie schrie, sie schrie. Es hat mir das Herz zerrissen", berichtet Fisehaje. "Seine Frau stand in der Tür und weinte." Am nächsten Morgen überzeugte Fisehaje die misshandelte Frau, gemeinsam mit ihr zu flüchten. Sie rannten aus der Stadt in die Wüste hinaus. Es hielt aber niemand an, um ihnen zu helfen. So wurden sie von der Religionspolizei aufgegriffen und in die Gefangenschaft zurückgebracht.

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Die Flucht glückt

Die misshandelte Frau ging zurück zu Abu Hamsa. Fisehaje wurde zu Mohamed in ein dreistöckiges Gebäude in Sirte gebracht, das er gemeinsam mit zwei weiteren Kämpfern bewohnte. Sie zog mit einer 22-jährigen Eritreerin und deren 4-jährigem Sohn zusammen, die einem tunesischen Kommandeur namens Saleh gehörten. Außerdem lebte in dem Haus eine 23 Jahre alte Eritreerin mit ihrem zweijährigen Sohn und einer Tochter, die sie in Gefangenschaft zur Welt gebracht hatte. Sie waren im Besitz eines nigerianischen Kämpfers, der sich al-Bagdadi nannte.

Im April bezog die neue libysche Einheitsregierung Quartier auf einem Marine-Stützpunkt in Tripolis. In Sirte erfuhren Fisehaje und ihre Gefährtinnen unterdessen, dass eine von ihnen, die zweifache Mutter, bald an einen anderen Mann weiterverkauft werden sollte. Diese Nachricht trieb die Frauen dazu, erneut ihre Flucht zu planen. Unter dem Vorwand, ihre Familien anzurufen, sprachen sie mit eritreischen Schleusern in Tripolis.

Am frühen Morgen des 14. April schließlich nahmen sich die Frauen 60 Dinar, etwa 40 Dollar, aus Salehs Tasche und brachen durch eine Hintertür aus dem Haus aus. Sirte wirkte um diese Zeit jedoch fast verlassen. Weil sie befürchteten, erneut aufgegriffen zu werden, kehrten die Frauen in das Haus zurück. Stunden später, als die Stadt zum Leben erwachte, verließen sie ihr Gefängnis wieder. Sie liefen mehrere Stunden, ehe ein Taxi für sie anhielt.

In stockendem Arabisch verhandelte Fisehaje mit dem Fahrer. Sie erzählte ihm, sie seien Dienstmädchen, die von ihrem Arbeitgeber betrogen worden seien. Dann gab sie ihm die Nummer eines Schleusers in Tripolis. Der Fahrer verhandelte am Telefon mit dem Mann und erklärte sich schließlich bereit, die Frauen für 750 Dinar (540 Dollar) in das fünf Stunden entfernte Bani Walid zu fahren, wo der Schleuser ihn bezahlen sollte. Am Ende dauerte die Fahrt zwölf Stunden.

In Bani Walid brachte sie der eritreische Schleuser in einen Raum, wo sie ihre Schleier ablegten und vor Freude in Tränen ausbrachen. Sie beteten für die Dutzenden Frauen, die sie zurückgelassen hatten. Fisehaje borgte sich das Telefon des Schleusers und rief ihren Vater an, der die Nachricht von ihrem Entkommen unter Freunden und Verwandten verbreitete. Sie bezahlten Fisehajes Schulden und weitere 2000 Dollar, damit sie ein Boot nach Europa besteigen konnte. Im Mai, einem Monat, in dem 1133 Migranten auf See ertranken, überquerte sie das Mittelmeer. Ihre zehnmonatige Gefangenschaft war endgültig zu Ende. Wie viele andere Flüchtlinge schlug sie sich durch Italien und Österreich durch und erreichte einen Monat nach ihrer Flucht Deutschland, wo sie sich nun um Asyl bemüht.

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