ISIS-Kämpfer kehren in ihre Heimat zurück Tunesiens Angst vor den Mördern

In Syrien und im Irak verlieren die IS-Kämpfer derzeit an Boden. Für Tunesien verschärft sich dadurch ein Problem, das die Gesellschaft verängstigt: Tausende Bürger des Landes hatten sich den Extremisten angeschlossen, nun kommen immer mehr von ihnen zurück.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Tunesische Sicherheitskräfte führen einen Mann ab am 26.06.2015 nach einem Anschlag auf Touristen an einem Hotelstrand in Sousse, Tunesien. Viele Islamisten sind in den vergangenen Jahren aus Tunesien nach Syrien oder Irak gegangen, um zu kämpfen. Jetzt drohen sie zurückzukommen, weil die Terrororganisation immer mehr Gebiet verliert. Quelle: dpa

Kelibia Tunesien hat ein „Exportprodukt“, auf das es wenig stolz ist: Terroristen. Seit den Unruhen des Arabischen Frühlings herrscht im Land zwar Demokratie. Doch von der neuen Freiheit konnten offenbar auch radikale Kräfte massiv profitieren. Unzählige Jugendliche wurden systematisch indoktriniert. Schätzungen zufolge kämpfen heute mindestens 6000 Tunesier im Ausland für die sunnitische Terrormiliz Islamischer Staat. Ob sie in der Heimat jemals wieder in die Gesellschaft integriert werden können, erscheint mehr als fraglich.

Die tunesischen Gefängnisse sind schon jetzt voll, auch die Gerichte sind überlastet. Für eine eventuelle Aufnahme von mehreren Tausend Extremisten haben die Behörden also gar nicht die Kapazitäten. In der Praxis können viele Rückkehrer derzeit oft nach kurzer Haftzeit frei auf den Straßen herumlaufen. Viele Tunesier sind deswegen äußerst beunruhigt. Denn auch im Land selbst haben radikale Islamisten in den vergangenen Jahren mehrere blutige Anschläge verübt.

Die Regierung schien die Sorgen der Bürger lange kaum wahrzunehmen. Präsident Beji Caid Essebsi sagte noch im Dezember, von den meisten Rückkehrern würde gar keine Gefahr ausgehen. Bemerkungen wie diese brachten die Stimmung in der Bevölkerung schließlich zum Kippen. Aus Sorge wurde Protest. An einer ersten Demonstration, kurz nach dem Anschlag eines Tunesiers in Berlin, nahmen einige hundert Menschen Teil. Bei der zweiten waren es schon mehr als Tausend.

„Diese Leute sind gegangen, sie haben ihren tunesischen Pass zerstört, und sie haben erklärt, nun zur Nation des Islamischen Staates zu gehören“, sagt Boutheina Chihi Ezzine, die zu den Anführern der Proteste gehört. „Wir wüssten nicht, wie diese Menschen nun zurückkommen und die gleichen Werte wie wir haben könnten - das Gefühl, zu Tunesien zu gehören, zur tunesischen Nation.“

Nach offiziellen Angaben sind etwa 3000 Tunesier in die Kriegsgebiete im Nachbarland Libyen sowie in Syrien und im Irak gezogen. Viele Experten gehen jedoch davon aus, dass die tatsächliche Zahl mindestens doppelt so hoch ist. Darüber hinaus wurden etwa 1250 junge Extremisten an der Ausreise gehindert. Zudem dürfte es im Land Tausende stille Sympathisanten des IS geben.

Ezzine ist überzeugt, dass die Regierung nicht in der Lage wäre, einen künftigen Zustrom von zurückkehrenden Extremisten zu bewältigen. Nach den Äußerungen des Präsidenten im Dezember suchte sie daher im Internet über Facebook nach Gleichgesinnten und überzeugte sie, gemeinsam etwas zu unternehmen. Und die Parole der dabei entstandenen Gruppe - „Nein zur Rückkehr von Terroristen“ - traf einen Nerv. Inzwischen treffen Ezzine und ihre Mitstreiter regelmäßig führende Politiker. Sie gehen von Ministerium zu Ministerium, um konkrete Pläne einzufordern.

„Wir behandeln dieses Thema ganz im Sinne der Verfassung und der Gesetze“, sagt Chafik Hajji, ein tunesischer Diplomat, der für die Aufnahme der ehemaligen IS-Kämpfer zuständig ist. „Nach Artikel 25 der Verfassung ist es nicht zulässig, einem Tunesier seine Staatsbürgerschaft zu entziehen oder ihn an der Rückkehr in seine Heimat zu hindern.“ Besonders gefährliche Rückkehrer würden inhaftiert, alle anderen überwacht. Insgesamt seien bisher etwa 800 aufgenommen worden.

Ezzine kritisiert allerdings, dass es - anders als etwa in Saudi-Arabien - keine Programme zur Entradikalisierung gebe. Außerdem habe die Regierung in der Regel gar keine Möglichkeiten, sich ein realistisches Bild von einem Rückkehrer zu machen. Wenn eine Vernehmung ergebe, dass ein IS-Anhänger in einem ausländischen Kriegsgebiet Verbrechen begangen haben könnte, komme er zunächst zwar in Untersuchungshaft, sagt Ridha Raddaoui, der an einem tunesischen Institut für Terrorismusforschung arbeitet. Da die für eine Verurteilung notwendigen Beweise, wenn überhaupt, aber nur in Syrien oder Libyen aufzutreiben wären, würden die meisten Extremisten bereits nach kurzer Zeit hinter Gittern wieder freigelassen.

Über mehrere Monate hinweg hat Raddaoui mehr als 500 Rechtsfälle untersucht, in denen es um Terrorvorwürfe gegen Tunesier ging. Seine Ergebnisse lassen erahnen, warum ausgerechnet dieses Land, in dem es so ermutigende demokratische Fortschritte gegeben hat, so viele radikale Islamisten „exportiert“.

In einem Brief, der während eines Gefechts nahe der libyschen Grenze beschlagnahmt worden sei, hätten die Islamisten angemerkt, dass niemand so sehr wie sie von der Revolution in Tunesien profitiert habe, sagt Raddaoui. „Sie konnten aus den Gefängnissen entkommen, sie waren in der Lage, sich auf nationaler Ebene zu organisieren.“ In den Bergen im Nordwesten des Landes hätten sie sogar eigene Trainingscamps errichtet.

Unter dem autoritären Regime in den Jahren vor 2011 hatten sie sich ohnehin kaum Hoffnungen auf einen Job oder ein besseres Leben gemacht, nach dem Arabischen Frühling aber schon. Doch die Aufbruchstimmung hielt nicht lange an. Der Tourismus brach ein, die Wirtschaft schwächelte weiter. Die enttäuschten Jugendlichen wandten den Blick zunehmend in Richtung Europa - oder eben in Richtung IS. Viele junge Tunesier waren für deren Anwerber leichte Beute.

Einer von ihnen war Mohammed Bel Hadj Amor, der 2012 im Alter von 19 Jahren nach Syrien ging. Nach eigener Aussage wollte er einfach dem syrischen Volk helfen. Doch die Lage vor Ort war anders, als er es offenbar erwartet hatte. Zunächst wurde er von IS-Kämpfern abgefangen, die vier seiner Freunde töteten. Später nahmen ihn Truppen der syrischen Regierung gefangen. Seine Mutter erkannte ihn 13 Monate später in einer Fernsehsendung, in der es um insgesamt 43 in Syrien inhaftierte Tunesier ging.

Nach Angaben der Familie weigert sich die tunesische Regierung, die Gruppe in die Heimat zurückkehren zu lassen. Der Diplomat Hajji sagt dazu, dass Syrien bisher keine offizielle Anfrage bezüglich einer Überführung der Gefangenen gestellt habe. Am 15. Januar rief Amor zu Hause an und sagte, die Gruppe sei aus dem Gefängnis in Damaskus entlassen worden und werde nun an einen unbekannten Ort gebracht. Seitdem hat die Familie nichts mehr von Amor gehört.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%