IWF-Schulden-Vorstoß Lagarde schießt sich ins Abseits

„Kontraproduktiv“, „brandgefährlich“, „aberwitzig“: IWF-Chefin Lagarde erntet für ihren Vorstoß, das EU-Schuldenlimit abzuschaffen, Widerspruch. Politiker und Ökonomen warnen, Europa könnte wieder an den Abgrund rücken.

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IWF-Chefin Christine Lagarde: „In der EU sollte die 60-Prozent-Grenze angepasst werden mit Blick auf die Schuldenstände, die heute tatsächlich erreicht sind.“ Quelle: ap

Berlin Der Internationale Währungsfonds (IWF) ist dabei, sich gehörig ins Abseits zu schießen. Zumindest aus deutscher Sicht. Politiker wie Ökonomen halten es für abwegig, dass IWF-Chefin Christine Lagarde vor dem Hintergrund ihrer jüngsten Rezessions-Warnungen nun plötzlich dafür eintritt, den EU-Staaten zu erlauben, die Schuldenschleusen zu öffnen.

Auf einer Konferenz in Paris hatte Lagarde am Freitag gefordert, das geltende Limit von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Richtung des effektiven Standes anzuheben – derzeit wären das in der Euro-Zone 94 Prozent. „Man sollte in Rechnung stellen, wie die tatsächlichen Schuldenstände sich entwickelt haben“, sagte Lagarde und drückte damit indirekt aus, eine Rückkehr zum vertraglich geltenden Höchstwert von 60 Prozent sei unsinnig.

Was Lagarde vorschlägt birgt eine besondere Brisanz, zumal sie einer Institution vorsteht, die einst gegründet wurde, um Finanzkrisen zu bekämpfen. So spielt der IWF auch bei der Euro-Rettung neben der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank (EZB) die entscheidende Rolle. Freilich dürfte hinter dem Vorstoß der Französin die Annahme stehen, dass die Staaten mit mehr Geld in der Hand wohl auch mehr Investitionen anschieben könnten, um das Wachstum anzukurbeln.

Damit spielt die Französin freilich auch den derzeitigen Hauptproblemländern der Euro-Zone Frankreich und Italien in die Hände. Besonders aus dem unter einer lahmenden Wirtschaft leidenden Italien und aus dem mit Haushaltsproblemen kämpfenden Frankreich kommen immer wieder Forderungen, mehr für das Wachstum zu tun - und dafür zugunsten von Investitionen die Sparpolitik zu lockern. Lagarde hatte sich in diesem Sinne erst kürzlich geäußert – Mitte Oktober auf der Herbsttagung von IWF und Weltbank in Washington. Damals warb sie lediglich für mehr staatliche Investitionen ohne mehr Schulden zu fordern und verband ihr Werben mit der Warnung, dass der Euro-Raum sonst in eine Rezession zurückfallen könnte.

Mit ihrer jetzigen Forderung nach einer höheren Grenze für die zulässige Gesamtverschuldung von EU-Staaten geht die IWF-Chefin einen Schritt weiter – und erntet dafür umgehend scharfen Widerspruch. „Die Euro-Länder haben sich mit Unterzeichnung des Fiskalvertrags vor zwei Jahren dazu verpflichtet, die Verschuldung über 60 Prozent jedes Jahr um ein Zwanzigstel abzubauen“, sagte der Chef-Haushälter der Unions-Bundestagsfraktion, Norbert Barthle (CDU), dem Handelsblatt (Online-Ausgabe). „Wenn Frankreich und Italien damit Probleme haben, müssen die Probleme dort gelöst werden, anstatt Verträge auszuhebeln.“ Die hohe Staatsverschuldung einiger Euro-Länder sei ja gerade die Ursache für Spekulationen gegen den Euro gewesen.

Auch der SPD-Bundesvize Thorsten Schäfer-Gümbel wies den Lagarde-Vorstoß zurück. „Einfach nur die Höchstgrenzen der Staatsverschuldung in Europa abzuschaffen ist keine ausreichende Lösung“, sagte Schäfer-Gümbel dem Handelsblatt (Online-Ausgabe). Vielmehr müssten die Verursacher der Schulden-Krise endlich auch an deren Kosten beteiligt werden. „Dazu benötigen wir eine wirksame Finanztransaktionssteuer“, sagte der SPD-Politiker. Darüber hinaus brauche Europa ein faires Steuersystem. „Es kann nicht sein, dass internationale Konzerne ihre gesamten Gewinne in Luxemburg oder Irland zu Dumpingsätzen versteuern können, anstatt dort Steuern zu bezahlen, wo sie ihre Einnahmen machen.“


„Sparen wird mit aberwitzigen Argumenten diffamiert“

Ähnlich äußerte sich die Vize-Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Sarah Wagenknecht. „Frau Lagarde macht es sich zu einfach. Nur wer sich nicht traut, der Steuerhinterziehungsmafia das Handwerk zu legen sowie Millionäre und Milliardäre angemessen zur Finanzierung des Gemeinwesens zur Kasse zu bitten, muss die Verschuldungsgrenze anheben“, sagte Wagenknecht dem Handelsblatt (Online-Ausgabe). Allein eine Billion entgingen der öffentlichen Hand in der EU jährlich durch Steuerhinterziehung und legale Steuergestaltung nach Modellen á la Luxemburg. „Ohne eine effektiv höhere Besteuerung des gigantischen Reichtums der oberen Zehntausend und der Gewinne der Konzerne ist Lagardes Vorschlag auch unsozial, weil die Kosten der höheren Verschuldung überwiegend von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bezahlt werden müssen“, betonte Wagenknecht.

Der SPD-Finanzexperte Joachim Poß hält die Auffassung Lagardes aus einem anderen Grund für problematisch. „Wenn man beginnt, die Schuldenobergrenze an der jeweiligen Verschuldung zu orientieren, läuft man Gefahr, den Bock zum Gärtner zu machen“, sagte das SPD-Bundesvorstandsmitglied dem Handelsblatt (Online-Ausgabe). „Eine Erhöhung des Schuldenlimits zum jetzigen Zeitpunkt wäre das falsche Signal an die Länder, die neben Investitionen und Konsolidierung auch dringend Strukturreformen durchsetzen müssen.“

Poß wies überdies darauf hin, dass es die zu Unrecht kritisierte Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes im Jahr 2005 auch der Großen Koalition unter der Führung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Jahr 2009 ermöglicht habe, sich für die Konjunkturpakte von rund 80 Milliarden Euro zusätzlich zu verschulden. „Der reformierte Pakt verfügt seit der Änderung 2005 über ausreichende Flexibilität zur notwendigen Krisenabwehr“, betonte  er.

Aus Sicht des FDP-Finanzexperten Volker Wissing zeigt Lagardes Vorstoß, wohin die Reise in Europa geht: „Sparen ist unbequem und wird mit aberwitzigen Argumenten diffamiert, Schulden sind bequem und werden als kreative Lösung bejubelt“, sagte das FDP-Präsidiumsmitglied dem Handelsblatt (Online-Ausgabe).

Wissing gab der Bundesregierung und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) eine Mitschuld dafür, dass Ideen wie die von Lagarde immer populärer in Europa würden. „Wer angesichts der gegenwärtigen Staatsschulden eine Mütterrente und die Rente mit 63 beschließt, muss sich über Frau Lagardes Schuldenvorschlag nicht wundern“, sagte er. „CDU und SPD sind wieder auf dem alten Kurs, der Europa an den Rand des Abgrunds geführt hat.“ Offensichtlich wollten einige noch einen Schritt weiter gehen.

Tatsächlich hat in der Bundesregierung bereits ein Umdenken eingesetzt. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) kündigte am vergangenen Donnerstag ein neues Investitionsprogramm an. Zwischen 2016 und 2018 sollen demnach zusätzlich 10 Milliarden Euro in Infrastrukturmaßnahmen fließen. Angaben zur Gegenfinanzierung machte der Minister nicht. Schäuble betonte aber, dass die Bundesregierung an ihrem Ziel festhalten wolle, ab dem nächsten Jahr ohne Neuverschuldung auszukommen.


„Nicht bestimmte Regeln des Maastrichter Vertrages herauspicken“

Schäuble offenbarte seinen Investitions-Plan einen Tag vor Lagardes umstrittenen Äußerungen. Der Minister stand jedoch in den vergangenen Monaten schon unter massivem Druck des IWF, der EU- Partner und des Koalitionspartners SPD, die Investitionen in Deutschland zu steigern, um Wachstum zu fördern. Ein kurzfristiges Konjunkturprogramm lehnt Schäuble aber weiterhin ab. Vor allem will er seinen Sparkurs nicht aufgeben.

Führende Ökonomen in Deutschland hat Schäuble damit auf seiner Seite. Jedenfalls halten die Experten von Lagardes Gedankenspielen reichlich wenig. „Frau Lagarde redet einer weiteren Lockerung der Schuldengrenzen das Wort, weil sie mehr Verschuldung will. Eine Verschuldung löst jedoch nicht die Wettbewerbsprobleme Südeuropas, sondern  ermöglicht die Vertagung der dafür erforderlichen schmerzlichen Reformen“, sagte der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn dem Handelsblatt (Online-Ausgabe).

Die IWF-Chefin könne sich aber „nicht selektiv bestimmte Regeln des Maastrichter Vertrages herauspicken“. Wenn sie den Vertrag aufschnüren wolle, fielen ihm ganz andere Dinge ein, die vordringlicher seien, insbesondere eine Änderung der Regeln der Europäischen Zentralbank (EZB), mit dem Ziel den Zugang zu den lokalen Druckerpressen zu beenden oder ein Ausstieg aus der Gläubigerrettung.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher sprach von einer völlig verfehlten und kontraproduktiven Empfehlung. Europa befinde sich nach wie in einer Vertrauenskrise, in der Unternehmen und Märkte große Zweifel an der Nachhaltigkeit der Verschuldung ihrer Staaten hätten. „Es wäre Gift, in einem solchen Umfeld das wackelige Vertrauen durch eine Aufweichung der gemeinsamen Regeln weiter zu schädigen“, sagte Fratzscher dem Handelsblatt (Online-Ausgabe).

Genau das Gegenteil dessen, was Lagarde empfehle, sei heute notwendig. Regierungen müssten durch Strukturreformen und einen glaubwürdigen Pfad ihrer Fiskalpolitik das Vertrauen der Unternehmen und Märkte zurückgewinnen, betonte Fratzscher. Es sei daher der „völlig falsche Zeitpunkt“, jetzt eine Debatte um die gemeinsamen europäischen Regeln anzustoßen.

Scharfe Kritik kam auch vom Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther. „Die Äußerungen von Frau Lagarde sind brandgefährlich, weil sie jegliche Regelbindung der Finanzpolitik in der Eurozone aushebeln“, sagte Hüther dem Handelsblatt (Online-Ausgabe). Wenn die Grenzwerte für die zulässige Staatsverschulung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt beliebig der Realität angepasst werden sollten, dann verlören sie ihren Wert und man könne ganz darauf verzichten.

„Auch wenn die Festlegung im Maastrichter Vertrag sich an der damaligen Situation orientierte, so öffnet das nicht einer Beliebigkeit Tür und Tor“, warnte Hüther. „Denn etablierte Regelwerte prägen die Erwartungsbildung und orientieren die Glaubwürdigkeit.“ Gerade nach der Staatsschuldenkrise erweise sich der Bedarf an einer „glaubwürdigen Selbstbindung“ in besonderer Weise. „Frau Lagarde mag Frankreich und Italien im Auge haben, doch ist gerade auch den Ländern nicht geholfen, wenn die Euro-Zone als Ganzes keine glaubwürdigen Regeln mehr hat.“


IWF räumt Fehler in der Krisenstrategie ein

Lagardes Trommeln für mehr Schulden könnte auch mit der Rolle des IWF zu tun haben, die sich in den vergangen Jahren grundlegend verändert hat. Bis in die 1970er Jahre war der Fonds eine Art Währungswächter, danach bekam er zunehmend die Rolle eines Krisenhelfers für Staaten mit Finanzschwierigkeiten. In Not geratene Länder unterstützt die Organisation mit Krediten. Das legt den logischen Schluss nahe, dass es dem IWF lieber wäre, erst gar nicht eingreifen zu müssen. Das lässt sich aber nur dann bewerkstelligen, wenn die Länder auch in der Lage sind, sich selbst zu helfen.

Hier sind im Zuge der Euro-Schuldenkrise auch einige Fehler gemacht worden. Vor wenigen Tagen hat Lagarde dies noch einmal betont, indem sie die vom IWF unterstützte und den Krisenländern auferlegte Austeritätspolitik als Fehler bezeichnete. Der Währungsfonds hatte schon vor einem Jahr Fehler eingeräumt – damals mit Blick auf die Griechenland-Rettung.

Lagarde ließ damals ein 51-seitiges IWF-Dokument über das Krisenmanagement im Fall Griechenland veröffentlichen, das wie eine Selbstanklage anmutete. Eine schonungslose Abrechnung mit sich selbst, aber auch mit den anderen Euro-Rettern – und damit auch mit Merkels Krisenstrategie.

Von „bedeutsamen Misserfolgen“ war die Rede. „Es wurde unterschätzt, wie negativ sich das auferlegte Sparprogramm auf die griechische Wirtschaft auswirkt.“ Es war gerade die Bundesregierung, die lange Zeit auf harten Einschnitten bestand. Die Konsolidierung war zwar notwendig, betonte der IWF, doch sie hätte anders dosiert werden müssen. Immer wieder kritisiert der IWF seine Mithelfer, die EU-Kommission und die EZB, die zusammen die Troika bilden. „Keiner der Partner scheint das Gefüge als ideal anzusehen“, heißt es in dem Dokument. Es seien „unterschiedliche Sichtweisen innerhalb der Troika“ aufgetreten.

Unterm Strich bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass alle Krisenakteure zu optimistisch kalkulierten, weil sie unrealistischerweise angenommen haben, die Rosskur einer harten Sparpolitik würde nach wenigen Jahren soweit anschlagen, das Wachstum rasch wieder in Gang kommt und damit die Staatsfinanzen entlastet werden. Und: Dass blinde Sparpolitik der falsche Weg ist.

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