Kampf gegen IS Mossul ist noch nicht das Ende

Nach dem Kampf um die irakische Stadt Mossul steht der um eine weitere IS-Bastion bevor: Es geht um das syrische Al-Rakka, die De-facto-Hauptstadt des Kalifats der Extremisten. Zehntausende Zivilisten sitzen dort fest.

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Inmitten von improvisierten Sprengsätzen und unter Beschuss versucht die Anti-IS-Koalition die nordsyrische Stadt einzunehmen – in der sich 2000 IS-Kämpfer unter zehntausenden Zivilisten verschanzen. Quelle: dpa

Beirut Seit einem Monat toben die Kämpfe um das nordsyrische Al-Rakka – inzwischen konnten syrische Kämpfer die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) mit Unterstützung der USA einkesseln, ihre Befestigungsanlagen durchbrechen und Richtung Altstadt vorrücken. Doch die Schlacht um die De-facto-Hauptstadt des IS-Kalifats hat gerade erst begonnen. Und im dicht besiedelten Zentrum sind mehr als 2000 IS-Kämpfer mit ihren Familien und Zehntausende Zivilisten eingeschlossen.

Zwar ist Al-Rakka viel kleiner als die irakische IS-Hochburg Mossul, doch könnte der Kampf um die Stadt im komplexen syrischen Bürgerkrieg mit seinen vielen verschiedenen Fronten ähnlich mörderisch werden. So wurde die syrische Kurdenmiliz, wichtigster US-Verbündeter gegen den IS, bereits durch die türkische Mobilisierung auf der anderen Seite des Landes geschwächt: Die Türkei droht mit einer Offensive gegen eine kurdische Enklave im Westen Syriens. Nahe der Grenze wurden türkische Truppen mobilisiert, neulich starben durch türkischen Beschuss kurdischer Dörfer in Nordsyrien mindestens drei Zivilisten. Kurdische Vertreter warnten bereits, der Vorstoß Ankaras gefährde die Rückeroberung Al-Rakkas, weil er die kurdische Miliz zwinge, sich zum Schutz der Enklave neu aufzustellen.

Syrien-Beobachter befürchten zudem, dass die von den USA unterstützten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) nicht so schlagkräftig und gut ausgebildet sind wie die irakischen Truppen, die in Mossul und der umliegenden Provinz Ninive seit August gegen IS-Milizen kämpften. „Mossul ist eine einjährige Kampagne“, sagte der US-Sonderbeauftragte Brett McGurk dem Fernsehsender Al-Aan während eines Frontbesuchs in Al-Rakka im Juni. „Al-Rakka wird wohl nicht so lange dauern, aber es wird trotzdem Zeit brauchen.“

Ein weiteres Problem ist die Verwaltung Al-Rakkas, wenn die Dschihadisten erst einmal vertrieben sind. Die arabische Bevölkerung der Region wird jegliche Kontrolle durch die Kurden ablehnen, die die SDF dominieren. Nach Vorstellung der US-geführten Anti-IS-Allianz soll ein von der SDF gebildeter Rat die Stadt regieren. Doch auch Syriens Regierung meldete bereits Ansprüche an, ihre Truppen könnten Verschiebungen bei den Machtverhältnissen für eine Intervention nutzen.

Nach Einschätzung der internationalen Koalition sind noch rund 2500 Extremisten in Al-Rakka, vor allem syrische Kämpfer und taktische Kommandeure, während hochrangige Kämpfer und Ausländer vermutlich die Stadt verlassen haben. Ähnlich wie in Mossul sind sie gut organisiert und diszipliniert, begegnen vorrückenden Truppen mit Selbstmordanschlägen, bewaffneten Drohnen und nächtlichen Straßenkämpfen. In von den SDF kontrollierten Gebieten schlagen sie mit überraschenden Gegenangriffen zurück.

„Diese Verteidigungsstrategie ist dazu da, den Kampf in die Länge zu ziehen und die Verluste für die Koalition und die örtliche Bevölkerung hochzutreiben“, sagt Jennifer Cafarella, Syrien-Expertin beim Washingtoner Institute for the Study of War. Die Schlacht um das nordsyrische Manbidsch etwa dauerte mehr als zwei Monate und endete damit, dass die Dschihadisten beim Rückzug Hunderte Zivilisten als Geiseln mitnahmen. Die Stadt ist nur halb so groß wie Al-Rakka, galt jedoch als wichtige Drehscheibe für den IS.


Inmitten der Kämpfe sitzen bis zu 100.000 Zivilisten fest

In Al-Rakka scheinen die Extremisten entschlossen, bis zum bitteren Ende zu kämpfen. In diesem Fall würden die SDF „jeden vernichten müssen, bevor sie die Kontrolle über Al-Rakka übernehmen“, sagt Rami Abdurrahman, Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Auch Russland als Verbündeter von Syriens Präsident Baschar al-Assad lehnt laut Abdurrahman einen Abzugskorridor für IS-Kämpfer aus Al-Rakka ab, weil diese sonst nach Dair as-Saur ziehen könnten, wo die syrische Regierung selbst gegen den IS kämpft.

Seit dem 6. Juni greifen SDF-Truppen die IS-Bastion Al-Rakka aus dem Osten, Westen und Norden an, inzwischen haben sie etwa 20 Prozent erobert. In der vergangenen Woche überwanden sie mit dem Euphrat die südliche Stadtgrenze und schlossen damit den Ring um die Stadt. Doch noch ist unsicher, welche Seite der Kampf an vier Fronten mehr schwächt. An einer Stelle gingen die Dschihadisten zum Gegenangriff über und holten sich Teile des östlichen Bezirks Al-Sinaa zurück. Bis die SDF das Gebiet wieder kontrollierten, vergingen einige Tage.

„Es stehen noch eine Menge schwerer Kämpfe bevor“, betont der Sprecher der Anti-IS-Koalition, Joseph Scrocca. Überall in der Stadt gebe es improvisierte Sprengsätze, in den mit Bomben übersäten Straßen gerieten die SDF-Kämpfer unter Beschuss von schweren Maschinengewehren, Panzerfäusten, sprengstoffbestückten Drohnen und Heckenschützen. Inmitten der Kämpfe sitzen 50.000 bis 100.000 Zivilisten fest. Bisher wurden nach Angaben der Beobachtungsstelle 224 Zivilisten bei Luftangriffen getötet, darunter 38 Kinder und 28 Frauen. Auch 311 IS-Extremisten starben bei Gefechten und Luftangriffen, die SDF verloren demnach 106 Kämpfer.

Abdalasis Alhamsa ist Gründungsmitglied der Gruppe „Raqqa is Being Slaughtered Silently“ (Al-Rakka wird leise abgeschlachtet), die das Geschehen seit der Eroberung durch den IS im Januar 2014 dokumentiert. Ihm zufolge rücken die SDF-Truppen nur im Schutz von Luftangriffen vor, so dass die Zivilbevölkerung mit schrumpfenden Wasser- und Nahrungsvorräten in den Häusern festsitzt. Vergangene Woche sei sein Onkel gestorben, als er von einem Brunnen in einer Schule Wasser holen wollte. Beim ersten Luftangriff sei er Kindern zu Hilfe geeilt, beim zweiten Luftangriff getötet worden. Weil seine Familie nicht an die Leiche heran kam, wurde er in der Schule beerdigt, wie Alhamsa aus New York berichtet.

Nach Angaben der Gruppe wurden im Juni 27 Menschen beim Wasserholen am Fluss getötet. Durch das verunreinigte Flusswasser verbreiten sich demnach auch Krankheiten und die Angst vor Cholera. Zivilisten, die mit der Koalition zusammenarbeiten oder gegen die extreme Auslegung des Islamischen Rechts verstoßen, würden verhaftet und hingerichtet: Eine Frau wurde laut Alhamsa wegen eines nicht näher benannten Regelverstoßes erstochen, andere wurden gekreuzigt, weil sie während des Ramadan nicht gefastet hatten.

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