Angela Merkel fliegt nach Afrika. Ein „Arbeitsbesuch“ bei der Afrikanischen Union in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba steht an. Das offenbar neu erwachte Interesse der Bundeskanzlerin an Afrika steht ganz offensichtlich im Zusammenhang mit ihrem neuen Mantra. Es lautet: „Fluchtursachen bekämpfen“. Sie hat es auf dem Tag der Deutschen Industrie wiederholt.
Es ist – nun ja – ein Vorhaben, das niemand offen kritisieren kann. Vom Grünen- bis zum AfD-Wähler wird kaum jemand sagen: Ich will Fluchtursachen bestehen lassen. Möglicherweise ist die Konsensfähigkeit ihres Mantras auch nicht der geringste Grund dafür, dass Merkel es gewählt hat. Nur, was steht dahinter?
Zunächst ist – wie so oft bei Merkels Kommunikation – der Begriff eher verwirrend als erhellend. Die Fokussierung auf „Fluchtursachen“ ist eine wenig hilfreiche Vereinfachung. Sie stellt einzig und allein unerträgliche Zustände im Herkunftsland als Grund für die Auswanderung dar. Das trifft aber nur auf einen Teil der gegenwärtigen Migrationsbewegungen zu.
Wer aus Syrien in die Türkei oder ein anderes Nachbarland emigriert, weil seine Existenz zerstört ist, ist natürlich ein Flüchtling. Aber auf diejenigen, die aus Italien oder Griechenland unbedingt nach Deutschland weiterwollen, trifft dies strenggenommen nicht mehr zu. Sie wollen in ein Land, von dem sie sich noch bessere Versorgung und noch bessere ökonomische Perspektiven erwarten, einwandern – was verständlich ist. Aber sie „fliehen“ nicht mehr vor etwas. Entscheidender Motivator des Weiterwanderns ist die Attraktivität des Ziellands geworden.
Flüchtlinge: Das ist der Integrationskatalog der CDU
Für Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge sollen Praktika mit Abweichungen vom Mindestlohn auf mindestens sechs Monate verlängert werden, um einen Berufseinstieg zu erleichtern. Schon heute sind Abstriche von den 8,50 Euro Mindestlohn pro Stunde bei betrieblichen Einstiegsqualifizierungen von bis zu zwölf Monaten möglich. Die CDU-Spitze verzichtete nach Protest der SPD und des Arbeitnehmerflügels der Union darauf, anerkannte Flüchtlinge mit Langzeitarbeitslosen gleichzustellen. Auch dann wäre eine Abweichung vom Mindestlohn von bis zu sechs Monaten möglich gewesen.
Quelle: CDU-Bundesvorstand / Reuters, Stand: 15.02.2016
Eine Anstellung in der Leiharbeitsbranche soll nach drei statt derzeit erst 15 Monaten möglich sein. Bei gemeinnützigen Organisationen soll stärker dafür geworben werden, Flüchtlinge in den von den Jobcentern geförderten Ein-Euro-Jobs zu beschäftigen.
Asylberechtigte, anerkannte Flüchtlinge und sogenannte subsidiär Schutzberechtigte sollen ein unbefristetes Aufenthaltsrecht nur erhalten, wenn sie über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen, Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung nachweisen, keine Straftaten begangen haben und ihren Lebensunterhalt sichern können. Auch der Familiennachzug soll von der erfolgreichen Teilnahme an Integrationskursen abhängig gemacht werden.
Die Hürde für eine frühe Teilnahme an Integrationskursen oder Förderprogrammen der Arbeitsagenturen noch vor Abschluss des Asylverfahrens soll höhergelegt werden. Laut dem im Oktober beschlossenen Asylpaket I reicht dafür bisher eine "gute Bleibeperspektive" aus. Diese wird bei Asylsuchenden aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von über 50 Prozent angenommen. Laut CDU-Papier soll "künftig eine 'sehr gute Bleibeperspektive' entscheidend sein, weil wir insbesondere Syrern und Irakern helfen wollen".
Die CDU strebt Gesetze von Bund und Ländern an, in denen verbindliche Integrationsvereinbarungen festgelegt werden sollen. In den Aufnahmeeinrichtungen sollen ein Basissprachkurs und ein Kurs zu Grundregeln des Zusammenlebens Pflicht sein und mit einem Abschlusstest versehen werden.
Asylberechtigten, anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten soll ihr Wohnsitz zugewiesen werden, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft sichern können. Ausnahmen sollen möglich sein, wenn die Betroffenen am Wohnort ihrer Wahl einen Arbeitsplatz und eine eigene Wohnung nachweisen können.
Die CDU will prüfen lassen, ob die Schulpflicht für Flüchtlinge ohne Schulabschluss über das bisher geltende Alter von 18 Jahren hinausgehen soll. Im Entwurf stand noch eine angestrebte Altersgrenze von 25 Jahren.
In einem aktuellen Interview mit der „Zeit“ belegt Merkel selbst die Untauglichkeit der Fluchtursachen-Perspektive. Nachdem Sie zunächst ausschließlich von „Flüchtlingen“ spricht, sagt sie: „Übrigens sind die Migranten aus Afrika nicht notwendigerweise die Ärmsten ihrer Länder“. (Es ist das einzige Mal, dass sie von "Migranten" spricht.) Für viele Menschen sei der Kampf um das tägliche Leben so hart, „dass nur wenige sich eine Flucht … leisten können.“ Damit kommt sie einer realistischen Analyse der Wanderungsbewegungen der Gegenwart recht nahe.
Was in Deutschland pauschal als „Flucht“ bezeichnet wird, ist tatsächlich nicht auf absolut steigende Armut in den Herkunftsländern zurückzuführen. Auch in Afrika hat, der europäischen Wahrnehmung zum Trotz, die absolute Armut in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. Es kommen Menschen von dort nach Europa, die sich zumindest ein Smartphone leisten können, mit dem sie sich über die attraktivsten Ziele und sichersten Routen informieren. Wie die Kanzlerin selbst sagt: „Wenn man sieht, wie es anderswo zugeht, wachsen auch die Wünsche.“
Wie die Bundeskanzlerin diese afrikanischen „Fluchtursachen“ bekämpfen will, bleibt schleierhaft. Von einem Plan, der über die Erhöhung bisheriger Hilfsprojekte hinausgeht, ist aus Berlin ebenso wenig zu hören wie aus anderen westlichen Hauptstädten. Viel zu kurz kommen neben Hilfsprojekten, die korrupte afrikanischen Regierungsstellen ebenso mitfüttern wie eine wachsende Armee von Nichtregierungsorganisationen, die Stärkung der unternehmerischen Eigeninitiative durch Handelserleichterungen. Der wichtigste Schwerpunkt sollte aber die Eindämmung des immer noch beängstigenden Bevölkerungswachstums sein. Freie Verhütungsmittel für Afrikanerinnen, das wäre ein lohnendes Projekt. Denn Bevölkerungen, die nicht mehr stark wachsen, werden eher reich und friedlich - und exportieren eher Güter als Menschen.
Die ernüchternde Realität ist, dass Deutschland und die EU wohl nicht viel tun können - weder im Sinne der grundlegenden Befriedung von Konfliktregionen noch im Sinne der Schaffung ökonomisch attraktiver Perspektiven – wenn die afrikanischen Regierungen und Zivilgesellschaften nicht selbst aktiv werden. Dass Merkel nun in Addis Abeba ein Gebäude der „Afrikanische Union“ einweiht, ist bezeichnend: Die Wanderungsbewegungen der jüngsten Zeit waren dem Bund afrikanischer Staaten keinen einzigen Sondergipfel wert.
Solange Europa als Überlaufbecken für unzufriedene junge Männer, als Geber von Entwicklungshilfe und Zielscheibe moralischer Vorwürfe bereit steht, ohne echte Druckmittel gegen die korrupten, versagenden Regierungseliten Afrikas, verspüren letztere wenig Anreiz, ihre Politik wesentlich zu ändern.